Konferenz Europäischer Kirchen
Ökumenische Rat der Kirchen
Lutherischer Weltbund
Bericht der ökumenischen
Delegation in Jugoslawien

Novisad, Belgrad, 16. 18. April 1999
Jugoslawiens doppelte Tragödie

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2. BEGEGNUNG MIT PROTESTANTISCHEN KIRCHENLEITERN (NOVISAD)
3. DIE BEGEGNUNG MIT DER RÖMISCH-KATHOLISCHEN KIRCHE (BELGRAD)
4. BEGEGNUNG MIT DER SERBISCH-ORTHODOXEN KIRCHE (BELGRAD)
5. DIE HUMANITÄRE LAGE IN JUGOSLAWIEN
6. ERGEBNISSE UND SCHLUSSFOLGERUNGEN
7. EMPFEHLUNGEN FÜR INTERNATIONALE KIRCHLICHE ORGANISATIONEN
ANHANG 1: REISEROUTE DER DELEGATION
ANHANG 2: STATISTIKEN DER KIRCHEN IN JUGOSLAWIEN

1. EINLEITUNG
Eine gemeinsame Delegation der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und des Lutherischen Weltbundes (LWB) besuchte die Bundesrepublik Jugoslawien (FRY) vom 16. bis 18. April 1999.

Ziel des Besuches war es, mit den Verantwortlichen der Mitgliedskirchen in der Bundesrepublik Jugoslawien zusammenzutreffen und mit ihnen über die Gründe und Folgen der derzeitigen Krise im Kosovo und der NATO-Bombardierungen in Jugoslawien zu sprechen. Die Delegation besuchte Mitgliedskirchen in den jugoslawischen Städten Novisad und Belgrad, konnte jedoch aufgrund er Einschränkung der Bewegungsfreiheit als Folge der intensiven Konfliktsituation dort nicht in die Provinz Kosovo selbst einreisen. Auch Besuche bei den Mitgliedskirchen in Albanien und den anderen Ländern der Region waren geplant.

Der Besuch fand bald nach dem Beginn der Bombenkampagne gegen Ziele in der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien statt. Die ökumenische Delegation wurde im Zusammenhang mit der weitverbreiteten internationalen Sorge durchgeführt, die durch den massiven und tragischen Exodus von über einer halben Million Kosovo-Albanern in die Nachbarländer Albanien und Mazedonien und die Berichte und Vorwürfe von ernsthaften Menschenrechtsverletzungen, Zwangsdeportation und willkürlichen Hinrichtungen verursacht wurde und die vom UNO-Flüchtlingskommisariat , dem UNO-Menschenrechtskommissariat und anderen im einzelnen verfolgt wurden.


Der Ökumenische Rat der Kirchen, die Konferenz Europäischer Kirchen und der Lutherische Weltbund haben wiederholt zu einer friedlichen Lösung der Konfliktsituation in der Region des Kosovo auf dem Verhandlungswege aufgerufen und sich entschieden gegen jede Gewalt oder Einsatz von militärischer Macht durch die beteiligten Parteien eingesetzt. Die entsprechenden Erklärungen und Presseberichte sind veröffentlicht worden.

Ziel dieses Berichtes ist es, die Ergebnisse des Besuchs und der Gespräche mit den jugoslawischen Kirchenleitungen mitzuteilen und die vorläufigen Ergebnisse der Delegation zusammenzufassen.

Die Ziele des Besuchs waren:

Die Mitglieder der Delegation waren:
Die Delegation traf mit den Leitern der protestantischen Minderheitskirchen (Reformierten, Lutheraner und Methodisten) in Novisad (Wojwodina) im Norden von Serbien zusammen. Die Region ist die Heimat wichtiger ethnischer ungarischer und slowakischer Minderheiten. Die Ankunft der Gruppe fiel mit der ersten Nacht zusammen, in der Novisad seit dem Beginn der NATO-Bombardierungen angegriffen wurde. Die Kirchenleiter begrüssten die Solidarität und das Verständnis der grösseren christlichen Familie, die mit dem Besuch ausgedrückt wurden und mass den Briefen und dem Friedensappell der internationalen Kirchengemeinschaft zu Ostern besonderen Wert bei.

Es gibt eine Reihe von Reaktionen der Kirchengemeinschaften in Jugoslawien auf die Krise im Kosovo und vor allem auf das Eingreifen der NATO und seine Folgen sowie Erklärungen undgemeinsame Gebete. Die Kirchenleitungen sind im allgemeinen gut informiert über die Flüchtlingskrise und die Deportation im Kosovo sowie seine dramatischen Folgen auf die Zivilbevölkerung und die Nachbarländer. Alle Kirchenleiter verurteilen ausdrücklich jede Gewalt, Einschüchterung, ethnische Säuberung und Zwangsvertreibung der Zivilbevölkerung im Kosovo und unterstützen Forderungen nach einer friedlichen Lösung des Konflikts auf dem Verhandlungswege. Es gibt jedoch unterschiedliche Einstellungen zu den direkten Ursachen der Gewalt und der Flüchtlingskrise im Kosovo. Für die meisten Kirchen ist die Rolle der bewaffneten separatistischen kosovo-albanischen Kräfte ein wichtiger Faktor, der zur Radikalisierung der Lage in der Region zusammen mit der gewalttätigen Antwort der jugoslawischen und serbischen militärischen und paramilitärischen Kräfte beigetragen hat, und die NATO-Bombardierungen werden so gesehen, dass sie zum Exodus der Menschen aus der Region erschwerend beigetragen haben.

Die Konfliktsituation und die NATO-Angriffe waren die Hauptthemen der Diskussion. Novisad ist drei Wochen lang jede Nacht von den Luftangriffen getroffen worden, und mehrere Ziele in den Vororten und zentrale Brücken der Stadt sind zerstört worden. Die Ortskirchen verurteilen einstimmig die NATO-Angriffe, die als ungerechte und unmenschliche Anwort auf eine komplexe Folge von Ereignissen angesehen werden, die zu der Krise um das Kosovo geführt haben und die von ihnen als illegale und unmoralische Angriffe auf einen souveränen Staat verstanden werden. Die Kirchenleiter betonten, dass die Bombenkampagne die Demokratie unterminiert, die Kontrolle des Regimes im Land verstärkt und die extremistischen Kräfte in Jugoslawien und unter den ethnischen Albanern radikalisiert hat.

Bischof Istvan, das Oberhaupt der Reformierten Kirche in Jugoslawien, ist sich sicher, dass der Krieg im Kosovo hätte verhindert werden können, wenn die westlichen Mächte nicht eingegriffen und "unmögliche Erwartungen" geweckt hätten. Nach Meinung des lutherischen Bischofs Valent ist "die humanitäre Tragödie der Albaner durch die Aktionen der NATO und der KLA (Befreiungsarmee des Kosovo) verschärft worden". Die Krise im Kosovo ist das Ergebnis des Abbaus des heiklen jugoslawischen Gleichgewichts zwischen Nationalitäten, das Tito aufgebaut hatte, und der extremistischen Kosovo-Albaner, die von den westlichen Mächten ermutigt wurden, eine Trennung von Jugoslawien anzustreben, sagten die Vertreter der Kirchen. Der methodistische Superintendent Hovan fügte hinzu, dass "jetzt das ganze Land in einer Krise ist" und dankte der ökumenischen Familie für ihre Hilfe und Unterstützung gegenüber allen Opfern des Konflikts.

Die ethnischen Minderheiten in der Provinz Wojwodina (hauptsächliche Ungarn und Slowaken) "sind für die Krise im Kosovo nicht verantwortlich", erklärte Bischof Valent, "aber die Folgen auf die Lage vor Ort sind bedeutsam". Junge Männer stehen vor der Gefahr, mobilisiert zu werden, die Auswirkungen auf die Wirtschaft sind schwerwiegend, und es gibt vereinzelte Beispiele von fremdenfeindlichen Haltungen gegenüber Minderheitsgruppen, die es vor den NATO-Luftattacken nicht gegeben hat. Die Einführung des Kriegszustand in Jugoslawien bedeutet auch, dass die Kirchen eine Genehmigung einholen müssen, wenn sie Versammlungen ausserhalb von Gottesdiensten veranstalten wollen.

Das tiefe Gefühl der Ungerechtigkeit und der Entrüstung, das in der traditionell multi-ethnischen und multi-kulturellen Region entstanden ist, wird von einer örtlichen Universitätsprofessorin, Dr. Svenka Savic, formuliert, deren Text von den Kirchen im Ausland verbreitet wird. "Brücken sind Gebilde.. des Geistes, die Menschen und Objekte miteinander verbinden Die Bombardierung der Brücke in Novisad symbolisiert die Trennung zwischen den Völkern, den Weltteilen, die Trennung in uns selbst. Die Bombardierungen der Brücke in Novisad ist nur eine von einer Reihe von Bombardierungen in unserem (früheren) Land .und heute stehen wir vor unserer zerstörten Brücke, jeder von uns erinnert sich daran, wie wir mit ihr gelebt haben ., und wir weinen alle. Wir weinen, weil wir diejenigen hassen, die sie uns weggenommen haben. Mit der Zerstörung der Brücke von Novisad als einem strategischen Punkt haben sie uns den gefühlsmässigen Punkt unseres Gleichgewichtes weggenommen , und nun hinken wir auf der Suche nach Hilfe."

3. DIE BEGEGNUNG MIT DER RÖMISCH-KATHOLISCHEN KIRCHE (BELGRAD)
Die Delegation wurde von Erzbischof Perko, dem Oberhaupt der römisch-katholischen Erzdiözese von Belgrad empfangen. Der Empfang geschah in demselben Speisesaal, in dem die westlichen Mächte Serbien ein Ultimatum gestellt haben, das zum Ersten Weltkrieg geführt hatte. Die römisch-katholische Kirche und der Heilige Stuhl haben über den päpstlichen Nuntius in Jugoslawien stark interveniert, um sich um eine Beendigung der internationalen Bombardierungen Serbiens als Antwort auf die Kosovo-Krise zu bemühen und fördern aktiv diplomatische Lösungen. Nach Meinung von Erzbischof Perko sind die Kirchen vereint gegen die NATO-Bombardierungen und dürfen nie aufhören, für Dialog und Verhandlungen zwischen den kriegführenden Parteien im Kosovo zu kämpfen. Das unvermeidliche Ergebnis der NATO-Angriffe auf Jugoslawien ist eine starke und volksweite Reaktion der Serben gegen den Westen, sagt er: "Wir sind für den Dialog, aber die Tragödie ist, dass der Dialog jetzt unmöglich ist , es scheint kein gegenseitiges Verständnis davon zu geben, was als seine Lösung zum Konflikt möglich ist." Der Erzbischof bleibt pessimistisch angesichts der direkten Zukunft. Er glaubt, dass die Zuspitzung der Ereignisse um das Kosovo herum eine "Tragödie und Katastrophe" für das serbische Volk ist, dessen Schicksal er mit dem der Juden während der Zeit des Propheten Jeremias vergleicht. Er unterstützt die "moralische Pflicht" der europäischen Kirchen, die NATO-Angriffe zu beenden, mit denen die Situation nur noch schlimmer wird, und zum Dialog und zu friedlichen Lösungen beizutragen, befürchtet jedoch, dass dies "ein Schrei in der Wildnis" ist.

4. BEGEGNUNG MIT DER SERBISCH-ORTHODOXEN KIRCHE (BELGRAD)
Die Delegation wurde vom Oberhaupt der serbisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Pavle, empfangen und getrennt von zwei Diözesan-Bischöfen, Irenej von Backa und Bischof Ignatije von Branicevo. Der Besuch wurde herzlich begrüsst als "ein sichtbarer Ausdruck der Sorge und Solidarität für die Kirchen in Jugoslawien und für die Sache des Friedens", sagte Patriarch Pavle. Er betonte, dass der Besuch zu einer Zeit grosser Schwierigkeiten und grossen Unglücks sowohl für Serben als auch für Albaner stattfinde. Der Patriarch betonte seine Verurteilung des Krieges und der Gewalt und wiederholte seine öffentlichen Aufrufe zur Beendigung aller militärischen Aktion durch alle Kräfte, um die garantierte Rückkehr aller Zivilisten in ihre Heimat und eine Lösung zu erlauben, die ein friedliches Zusammenleben möglich macht. "Von Anfang an habe ich in dieser Situation an unsere staatlichen Stellen, militärischen Kräfte und zivilen Verantwortlichen appelliert, alles in ihrer Kraft stehende zu tun, um eine Ausweitung des Konflikts zu verhindern", erklärte er. "Jeder Krieg ist ein Übel, aber der Bürgerkrieg ist ein doppeltes Übel, weil er die Nachbarn zum Kampf gegen die Nachbarn provoziert."

Der Patriarch erinnerte die Delegation daran, dass er selbst 34 Jahre lang im Kosovo gelebt hatte und die Lage dort aus erster Hand kennt. Er äusserte seine tiefe Sorge angesichts des Leidens der Menschen und der tragischen Zerstörung, die in der Provinz geschieht. Er glaubt, dass es wichtig ist, die Ursachen und Gründe für die derzeitige Lage zu verstehen. Seiner Ansicht nach befindet sich der jugoslawische Staat in einer unmöglichen Position, da bewaffnete Separatisten für die Unabhängigkeit vom übrigen Jugoslawien kämpfen. Der NATO-Eingriff wird als ein Angriff auf die Souveränität und Freiheit des Landes durch westliche Mächte gesehen, der nichts zur Förderung einer Lösung auf dem Verhandlungsweg beiträgt. Was sagt uns das Evangelium , wenn unsere Integrität und Freiheit angegriffen werden, fragt er. Die Kirche ist gegen Krieg, aber ein Staat hat das Recht, seine Integrität zu verteidigen. das Evangelium sagt aber auch, dass wir vor Gott für unsere Handlungen und unser Leben gerade stehen müssen und dass "all unser Wirken in dieser Krise der Gerechtigkeit, der Wahrheit und er Nächstenliebe dienen" müsse, betonte er.

Das serbische Kirchenoberhaupt begrüsst die Handlungen und Erklärungen der internationalen Kirchenorganisationen und vor allem der römisch-katholischen Kirche zur Förderung einer friedlichen Lösung zu dem Konflikt. Die serbisch-orthodoxe Kirche arbeitet direkt daran mit, alternative Lösungen zu suchen und hat regelmässig die Aktionen der jugoslawischen politischen Leitung im Kosovo kritisiert und auch eine Delegation zu de Friedensverhandlungen nach Rambouillet entsandt, um ihre Meinung vorzutragen, was leider erfolglos blieb. Gesonderte Anhänge als Zusatz zu den Vorschlägen von Rambouillet waren erarbeitet worden, in denen breite Autonomie und die Garantie der Rechte aller Minderheiten im Kosovo vorgeschlagen wurden. Ein Memorandum, in dem dringende alternative Lösungen zu der Politik der jugoslawischen Regierung vorgeschlagen wurden, war Madeleine Albright durch Bischof Artemije von Raska-Prizren überreicht worden. Der Patriarch und die Heilige Synode unterstützen die Erklärungen und Aktionen des orthodoxen Bischofs im Kosovo, Bischof Artemije, die Provinz zu einem Kanton innerhalb eines demokratischen und föderalen Jugoslawien zu machen, in dem alle ethnischen und nationalen Gruppen leben können. Diese Haltungen sind seit mehr als zwei Jahren vertreten worden und haben eine starke Kritik der orthodoxen Kirche durch die politische Leitung Jugoslawien hervorgerufen. Der Patriarch bekundete sein Interesse an den Vorschlägen, dass europäische Kirchen gemeinsam eine neue Initiative unternehmen sollten, um zu einer Einstellung der feindlichen Handlungen , zur Beendigung der NATO-Bombardierungen und der Errichtung eines humanitären Korridors nach Kosovo hinein zugunsten derer, die wegen der Kämpfe vertrieben wurden oder leiden, aufzurufen.

Im Gespräch mit Bischof Irinej, dem serbisch-orthodoxen Bischof von Novisad, wurde betont, dass die NATO-Luftangriffe die Lage noch verschlimmert haben und dass sie nicht zu einer Lösung der Krise beitragen können. Der psychologische Ansatz der NATO war "katastrophal", weil damit einfach jede Möglichkeit einer politischen Lösung dramatisch geschwunden ist. Die Delegation warf die Frage der berichteten Grausamkeiten, Zwangsvetreibungen und ethnischen Säuberung durch die jugoslawischen Kräfte im Kosovo auf. Der Kirchenvertreter äusserte sein tiefe Trauer über das menschliche Leiden in der Provinz, machte aber die separatistischen Kräfte und die intensiven Bombardierungen der NATO dafür verantwortlich, den massiven Exodus der Bevölkerung gefördert und sogar direkt verursacht zu haben. "Wir weinen über das Schicksal der Flüchtlinge aus dem Kosovo", sagt er, "und die Kirche wird nicht darauf schauen, wer Albaner und wer Serbe ist." Er bleibt jedoch skeptisch angesichts der humanitären Beweggründe für die NATO-Operation. "Wir haben so gut wie keine Hilfe, auch nicht von unseren staatlichen Stellen erhalten, um den 700.000 Flüchtlingen zu helfen, die zum Verlassen ihrer Heimat in Kroatien und Bosnien gezwungen waren", sagte er. Jugoslawien hatte viele Probleme und war bei weitem keine vollkommene Demokratie, aber es war immer noch das offenste Land im kommunistischen System, betonte er. "Die Schwierigkeiten sind nach dem Eingreifen der NATO tausendmal grösser geworden. Die Politik des Westens gegenüber Jugoslawien hat jetzt den stärksten anti-westlichen Faktor in Europa erzeugt".

Dem Bischof zufolge hat die serbisch-orthodoxe Kirche darum gekämpft, alternative Lösungen für die Kosovo-Krise vorzuschlagen, aber die NATO-Angriffe haben jetzt tatsächlich neue Konflikte und Spannungen geschaffen, die sogar bis in die Region der Wojwodina reichen. Er glaubt, dass Jugoslawien den Kosovo-Albanern innerhalb der bestehenden internationalen Grenzen volle Autonomie gewähren sollte, wobei die Rechte der anderen Minderheiten im Kosovo von einer internationalen Friedenstruppe "ohne NATO-Länder" garantiert werden solle, weil sie nach dem Eingreifen keine neutrale Rolle mehr spielen können. Der Bischof kann nicht glauben, das die katastrophalen Reaktionen der NATO-Bombardierungen von den westlichen Politkern nicht vorher analysiert und vorausgesehen wurden und stellt deshalb die Frage nach den breiteren geopolitischen Interessen bei dem Eingreifen in der Region. Der Bischof betonte, dass die Kirche "nicht im Geist der Regierung, sondern eher im Geist des Evangeliums" spricht. "Wir sind auch Europäer", sagte er und appellierte an die europäischen Kirchen, auf die Lage und Haltung der jugoslawischen Kirchen sowie auf die Folgen der Bomben und der Vertreibung auf die Menschen in der Bundesrepublik Jugoslawien stärker aufmerksam zu machen.

5. DIE HUMANITÄRE LAGE IN JUGOSLAWIEN
Während der Gespräche mit den Kirchenvertretern wurde über die kritische soziale, humanitäre und politische Lage gesprochen, die durch die Bombardierungen und die fortgesetzte Gewalt und Militäraktion im Kosovo entstanden ist. Das volle Ausmass der humanitären Folgen bleibt schwer zu beurteilen und verändert sich täglich. Die massive Vertreibung der Bevölkerung im Kosovo und die Ankunft von mehr als einer halben Million Kosovo-Albanern als Flüchtlingen in den Nachbarländern Albanien und in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien hat eine grosse humanitäre Katastrophe und grosses Leiden erzeugt. Zur Zeit des Besuches waren die genaue Lage im Kosovo und das volle Ausmass der humanitären und materiellen Katastrophe noch nicht bekannt. Die internationalen Hilfsorganisationen und die Hilfswerke der Vereinten Nationen schätzen, ,dass einige Hunderttausende von Menschen in der Provinz selbst vertrieben sind und nur begrenzten Zugang zu Lebensmitteln und Unterkünften haben.

Viele grössere Städte in Jugoslawien sind von den NATO-Bombardierungen der Brücken, Energieversorgung und militärische Ziele schwer getroffen worden. Die intensivsten Bombardierungen fanden im Kosovo selbst und in den Städten im Süden Jugoslawiens statt. Die Bombe haben auch Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert, obwohl die Behörden zögern, irgendwelche Zahlen zu nennen. Einige der durch die Kämpfe im Kosovo Vertriebenen, darunter Albaner, Serben und andere, kommen bis in den Norden der Wojwodina und nach Novisad, obwohl viele die grösseren Städte zu meiden versuchen. Mehr als 100.000 Vertriebene befinden sich nach Angaben des jugoslawischen Roten Kreuzes in Montenegro. Auch die schon aus den Kämpfen und erzwungenen Volksbewegungen in Bosnien und Kroatien entstandene Flüchtlingsbevölkerung ist schwer davon betroffen. Nach Zahlen des UNHCR befinden sich noch mehr als 760.00 vor allem serbische Flüchtlinge in der Bundesrepublik Jugoslawien, von denen viele von internationaler Hilfe abhängen. Medikamente und andere dringende Artikel (z.B. Babynahrung und Milch) sind bereits eingeschränkt. Heizungen, Wasserleitungen und sanitäre Systeme sind in vielen Städten schwer beschädigt worden. Das Rote Kreuz erhöhte die Blutreserven und organisiert Erste-Hilfe-Kurse. Kranke, die keine Notfälle sind, werden aus den Krankenhäusern entfernt, und in einigen Gegenden ist die Wasserversorgung und die Heizung unterbrochen. Die psychologischen und traumatischen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung werden deutlich, und es scheint, dass die Selbstmordrate vor allem unter den besonders verwundbaren Gruppen wie den älteren Menschen ansteigt.

Eine andere direkte Auswirkung des Konflikts ist die potentielle Mobilisierung der Männer für die Armee. Männer im militärpflichtigen Alter dürfen das Land nicht verlassen. Einige Beispiele von Desertierungen und Flucht vor dem Militär werden vor allem aus der nicht-serbischen Minderheit berichtet, die im Kosovo nicht dienen will. Kriegsdienstverweigerer, vor allem Zeugen Jehovas und Nazarener, werden bestraft.

Es sind jedoch die Auswirkungen auf lange Sicht, die am meisten zu befürchten sind, sagt Karoly Beres, der Leiter der Ökumenischen Humanitären Organisation mit Sitz in Novisad.. "Das Bombardieren der Fabriken, Treibstofflager und zivilen Verkehrswege nach zehn Jahren internationaler Sanktionen, verursacht schnell eine wirtschaftliche Katastrophe". Noch grössere Sorge bereitet der langsame Zusammenbruch des normalen Lebens, wenn Schulen und medizinische Versorgung eingestellt werden. "Es scheint für uns fast unmoralisch zu sein, um Hilfe zu bitten, wo die Kosovaren so viel leiden", betont er, aber die (durch die NATO-Bombardierungen verursachte ) Hasswelle verbreitet sich, und die Folgen erschrecken uns." Der Leiter der humanitären Organisation äusserte seine Anerkennung und seinen Dank für die Unterstützung durch die westlichen Hilfswerke gegenüber der Arbeit seiner Organisation. Beres zufolge können die Kirchen eine wichtige Rolle bei der Überwindung des Konflikts spielen, wenn sie die Fehler der Politiker vermeiden und in die Zukunft blicken und sich nicht nur auf die Vergangenheit beziehen. "Unsere grosse Aufgabe als Kirchen ist es, Wege zu finden, damit alle Nationen als Teile eines Ganzen in Europa zusammenleben können", sagt er, gibt aber zu, dass die andauernde Krise in Jugoslawien diese Erwartung zu einem fernen Traum macht.

6. ERGEBNISSE UND SCHLUSSFOLGERUNGEN
Der gemeinsame ökumenische Besuch wurde von den Kirchen als Ausdruck der echten Sorge und Solidarität begrüsst und wurde zu einem kritischen und gespannten Zeitpunkt in der Bundesrepublik Jugoslawien durchgeführt.

Die Delegation hat die doppelte Tragödie erkannt, in der das jugoslawische Volk lebt: der zerstörerische Bürgerkrieg und die Zwangsbewegungen der Bevölkerung in der Region des Kosovo sowie die massive Auswirkung der NATO-Bombardierungen auf ganz Jugoslawien.

Die jugoslawischen Kirchenleiter verurteilen jede Gewalt, Einschüchterung, ethnische Säuberung und Zwangsvertreibung der Zivilbevölkerung in der Provinz Kosovo.

Die serbisch-orthodoxe Kirche fordert ausdrücklich das garantierte Recht der Rückkehr aller aus ihrer Heimat durch die Kämpfe Vertriebenen.

Es gibt Unterschiede in der Beurteilung der direkten Gründe für den massiven Exodus der Flüchtlinge, da einige Kirchen die NATO-Bombardierungen und die bewaffnete Konfrontation innerhalb des Kosovo als wichtige Ursachen betrachten.

Alle Kirchen betonten die Notwendigkeit , dass jede Lösung für den Konflikt die territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien und den multi-ethnischen Charakter der Provinz mit den geschützten Rechten für alle ethnischen und religiösen Gruppen achten muss.

Es besteht Einmütigkeit unter allen Kirchen, den orthodoxen, der protestantischen und der katholischen, dass sie gegen die NATO-Bombardierungen sind. Nach Meinung der Kirchen hat das Eingreifen der NATO die jugoslawische Politik überhaupt nicht verändert, sondern eher zur einer Ausweitung der Krise geführt. Das Eingreifen wird als ungerechter Angriff auf ein souveränes Land und auf eine Zivilbevölkerung angesehen, trotzdem die NATO immer wieder betont, dass ihre Einsätze gegen die jugoslawische Leitung und die militärische Kapazität im Kosovo gerichtet sind.

Das Eingreifen der NATO wird als etwas betrachtet, was jede politische und demokratische Opposition im Land tatsächlich zum Schweigen gebracht und weitgehend die entstehende zivile Gesellschaft gelähmt hat, wenn sich jetzt das Land gegen die empfundene ausländische Aggression zusammenschliesst. Die jugoslawischen Behörden haben vor allem in Serbien die vorher lebendigen unabhängigen Medien geschlossen oder eingeschränkt. Nach Meinung des Vorsitzenden der demokratischen Partei, Zoran Djindjic, der zur Zeit des Besuches in den westlichen Medien zitiert wurde, hat das Eingreifen der NATO die Stellung von Milosevic nur noch gestärkt und wird zu sozialer Unruhe in Jugoslawien führen. In Belgrad haben 17 führende Friedensorganisationen und unabhängige nicht-staatliche Organisationen ein Ende der Bombardierungen verlangt, und Berichte sprechen von zunehmender Einschüchterung und Angst unter den zivilen Aktivisten seit Beginn der Bombardierungen. Paradoxerweise waren einige der am stärksten von den Bombardierungen betroffenen Gebiete auch Zentren der Unterstützung für die Parteien der politischen Opposition, während das Kosovo ein starkes Zentrum der Unterstützung für Milosevic war, weil sich die Kosovo-Albaner nicht an den Wahlen beteiligt hatten. Die Kirchen selbst haben sich nicht für die Leitung oder Politik des jetzigen jugoslawischen Regimes geäussert.

Durch die Militärangriffe der NATO könnte möglicherweise das zerbrechliche ethnische und politische Gleichgewicht innerhalb Jugoslawiens weiter destabilisiert werden und die Differenzen und Konflikte unter den Länden der Region wieder ausbrechen.

Die humanitäre Auswirkung der Bombardierungen ist in der Bundesrepublik Jugoslawien insgesamt viel breiter und tiefer als international berichtet wird. Zu den "Kollateralschäden" gehören häufige, oft indirekte Beschädigungen an Krankenhäusern, Schulen und Wohngebieten, und die wirtschaftlichen , psychologischen und traumatischen Folgen sind ungeheuer gross. In vielen Gegenden sind besonders verwundbare Gruppen durch die Unterbrechung der Verkehrswege abgeschnitten. Zum Beispiel wurde eine wichtige Brücke zerstört, die Serbien mit Kroatien verbindet, und damit wurden die letzten noch in dem Gebiet von Vukovar verbleibenden Serben abgeschnitten. Die wirtschaftlichen Folgen sind schwerwiegend und schwächen die Versorgung mit Wasser, Strom und Nahrungsmitteln in einigen Teilen des Landes. Das jugoslawische Rote Kreuz hat detaillierte Informationen über die Lage veröffentlicht und ergreift Massnahmen zur Vorbereitung der Katastrophenhilfe. Einige Gruppen in Jugoslawien haben gegen die Auswirkungen der NATO-Bombardierungen auf die Umwelt durch Angriffe auf Ölraffinerien und chemische Einrichtungen vor allem an der Donau protestiert sowie gegen den angeblichen Einsatz von Uranmunition und unterschiedslosen Anti-Personenbomben im Kosovo selbst.

Die Rolle der Medien und die Verbreitung von Information spielt eine wichtige Rolle bei der Meinungsbildung. Die staatlichen jugoslawischen Medien konzentrieren sich auf den Einfluss der NATO-Bomben auf die zivile Bevölkerung in anderen Teilen Jugoslawiens. Jugoslawen, die Zugang zu Satellitenfernsehen, ausländischen Rundfunksendern und dem Internet haben, sind sich der Massenvertreibungen, ethnischen Säuberung und den tragischen Schicksals der zum Verlassen des Kosovo gezwungen Flüchtlinge bewusst. Die westlichen Medien, die nur begrenzten Zugang zu den Regionen im Kosovo haben, berichten wenig über den bewaffneten Konflikt in der Provinz und über die Komplexität der Ursachen. Sehr wenig wird auch über die alternative und gemässigte Position der demokratischen Bewegung in Jugoslawien und der Kirchen berichtet. Die bewusste Einflussnahme aller Parteien auf die Medien und die neue Macht der direkten Information durch das Internet haben einen "Live-Krieg" geschaffen, in dem Bild und Meinungsäusserung Vorrang vor dem Inhalt und der Ausrichtung der Aktionen aller Seiten zu haben scheinen.

7. EMPFEHLUNGEN FÜR INTERNATIONALE KIRCHLICHE ORGANISATIONEN
Die internationalen ökumenischen Organisationen sollten den Kirchen in Jugoslawien weiter dabei helfen, ihre Erfahrung und ihr Verständnis der jetzigen Krise zu formulieren und zu vermitteln.

Die ökumenische Gemeinschaft sollte ein internationales Gebet für den Frieden in Solidarität mit den Kirchen in Novisad anregen, zum Beispiel an jedem Mittwoch nachmittag. Ein internationales Gebet für den Frieden in Jugoslawien wird von den jugoslawischen Kirchen für den 16. Mai vorgeschlagen.

Die internationalen kirchlichen Organisationen sollten den systematischeren Austausch von Information mit den Mitgliedskirchen in der Bundesrepublik Jugoslawien fördern, vor allem über den Konflikt und die Flüchtlingskrise im Kosovo und die internationale Reaktionen von Kirchen.

Die ökumenische Reaktion auf die humanitären Nöte aller Opfer, Vertriebenen und Flüchtlinge muss weitergehen und gestärkt werden durch ACT ("Aktion der Kirchen zusammen"). Die Bereitschaft zur Katastrophenhilfe hat Priorität, und eine Koordinationssitzung sollte mit en serbischen Partnern vereinbart werden. Besondere Betonung muss auf die Stärkung der Kapazität der Ortskirchen und Organisationen in der Bundesrepublik Jugoslawien, den Bedürftigen zu helfen, gelegt werden.

Unterstützung beim Wiederbeleben des ökumenischen Kirchenrates von Jugoslawien ist wesentlich und notwendig und wurde von den protestantischen Kirchenleitungen verlangt.

Die weitere Netzwerkarbeit und Mobilisierung der Kirchen weltweit zur Diskussion der Krise und ihrer jeweiligen Positionen zur Förderung einer gerechten und ausgehandelten Schlichtung der Krise muss ermutigt werden. Die besondere Sorge der europäischen Kirchen sollte sich auf einen gemeinsamen Aufruf zum Waffenstillstand, zur Einstellung der Bombardierungen und zur Einrichtung eines humanitären Korridors im Kosovo konzentrieren.

Ähnliche Besuche von anderen Kirchen und Partnern in der Balkanregion sollten so früh wie möglich organisiert werden, um die subregionale zwischenkirchliche Zusammenarbeit zu fördern.

Zur Überwindung der Isolierung und Förderung der ökumenischen Kontakte sollten die Kirchen der Bundesrepublik Jugoslawien stärker an den Aktivitäten und dem Leben der internationalen Kirchenorganisationen beteiligt werden.


ANHANG 1: REISEROUTE DER DELEGATION

16. April l: Flug nach Budapest und Übernachtung
17. April: Reise mit dem Kleinbus von Budapest in die Bundesrepublik Jugoslawien,
Begegnungen mit protestantischen Kirchenleitern und der ökumenischen humanitären Organisation in Novisad:
  • Bischof Istvan Csete-Dszemesi, reformierte-christliche Kirche in Jugoslawien
  • Bischof Jan Valent, slowakisch-evangelische Kirche des Augsburger Bekenntnisses in Jugoslawien
  • Superintendent Martin Hovan, evangelisch-methodistische Kirche in Jugoslawien
  • Karoly Beres, ökumenische humanitäre Organisation
Mittagessen und Besichtigungen von Bombenschäden in Novisad

Reise nach Belgrad Begegnungen mit der serbisch-orthodoxen Kirche:

  • Vater Andreas (Cilerdzic), Aussenbeziehungen
  • Bischof Irinej von Backa
  • Bischof Ignatije von Branicevo
  • Milivoj Randjioc, Leiter der serbisch-orthodoxen Jugendbewegung
Zusammenkunft mit Erzbischof Franc Perko, römisch-katholische Erzdiözese von Belgrad,
Abendessen und Übernachtung in Belgrad

18. April:Audienz bei S:H. Patriarch Pavle, Oberhaupt der serbisch-orthodoxen Kirche
Besuch im Rakovica-Kloster, Belgrad
Gottesdienst und Besuche im Kloster, das von NATO-Angriffen zerstört wurde
Rückkehr mit dem Kleinbus von Belgrad nach Budapest.


ANHANG 2: STATISTIKEN DER KIRCHEN IN JUGOSLAWIEN

Serbisch-orthodoxe Kirche: 6,5 Millionen Mitglieder, 35 Bischöfe

Lutherische Kirche: 48.000 Mitglieder, 27 Gemeinden, 13 andere Gemeinschaften, 21 Pfarrer (davon 4 Frauen)

Reformierte Kirche: 18.000 Mitglieder, 16 Pfarrer, 16 Gemeinden, 43 Tochtergemeinschaften (ohne Pfarrer)

Methodisten-Kirche: 1,000 Mitglieder, 16 Gemeinden, 8 ordinierte Pfarrer, 6 Laienpfarrer

Römisch-katholische Kirche: Erzdiözese von Belgrad: 10.000 Mitglieder (ohne Wojwodina und Kosovo)


ÖRK-Erklärungen und Aktionen im Zumsammenhag mit der Situation im Kosovo
Nach Jugoslawienreise: Delegation legt Bericht vor.
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