Ökumenischer Rat der Kirchen
ZENTRALAUSSCHUSS
Potsdam, Deutschland
29. Januar - 6. Februar 2001
Dokument Nr. PI 4


Zur Kenntnisnahmeng

ENTSCHLIESSUNG ZU ENTWURZELTEN MENSCHEN
(Angenommen)

Hintergrund

Der Zentralausschuss des ÖRK hat 1995 eine umfangreichere Grundsatzerklärung herausgegeben, in der die sich zunehmend verschlechternde Lage von Flüchtlingen und Migranten in einer Zeit weltweit eskalierender Konflikte hervorgehoben wird. In den letzten fünf Jahren hat sich die Lage noch weiter verschlechtert. Die bedrängenden Auswirkungen der Globalisierung und das Andauern nicht beherrschbarer Konflikte zwingen immer mehr Menschen dazu, ihre Gemeinschaften oder ihr Land zu verlassen. Von den 150 Millionen Menschen, die nicht in ihrem Herkunftsland leben, sind nur 17 Millionen von der Hohen Kommissarin für Flüchtlinge oder vom UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge als Flüchtlinge anerkannt worden. In den letzten fünf Jahren ist die Zahl der anerkannten Flüchtlinge sogar noch geringfügig zurückgegangen. Dramatisch ist indessen die Zahl der im eigenen Lande vertriebenen Menschen gestiegen, da die Regierungen Flüchtlingen die Suche nach Sicherheit in anderen Ländern erschweren. Deren Zahl beträgt zur Zeit annähernd 35 Millionen.

In allen Regionen der Welt nehmen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu. Flüchtlinge und Migranten werden eher als Bedrohung denn als Menschen angesehen, die in Not sind; sie dienen als Sündenbock für politisch Verantwortliche, die unter Druck stehen, Arbeitsplätze und die Volkswirtschaft zu schützen. Entwurzelte Menschen stoßen häufig an geschlossene Grenzen, wenn es ihnen schon gelungen ist, dorthin zu gelangen, und oft werden sie ausgewiesen, wenn sie die Grenzen überwinden konnten. In allen Regionen werden immer mehr Asylbewerber von den Regierungen in Haft genommen oder ins Gefängnis gebracht, um andere abzuschrecken. Menschen, die in verzweifelter Lage ihr Land verlassen müssen, fallen in die Hände von Menschenhändlern, und immer mehr Migranten werden wie Verbrecher behandelt.

Hilfe für Flüchtlinge

Wie seit Jahrhunderten wenden sich entwurzelte Menschen sehr häufig um Hilfe an die Kirchen. Seit mehr als sechs Jahrzehnten war der Ökumenische Rat der Kirchen ein Zentrum kirchlicher Flüchtlingsarbeit. Noch vor seiner Gründung im Jahre 1948 haben die mit dem ÖRK im Aufbau verbundenen Kirchen gemeinsam Menschen geholfen, aus dem von Deutschen besetzten europäischen Ländern zu fliehen. Später übernahmen sie die führende Rolle bei der Suche nach Lösungen für die nach dem Zweiten Weltkrieg und im Palästinakrieg 1948 Vertriebenen. Sie setzten sich für die Einrichtung des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) ein und arbeiteten eng mit ihm zusammen. Ende der 60er Jahre reagierten die ÖRK-Mitgliedskirchen auf die Flüchtlingskrisen auf dem afrikanischen Kontinent, die im Verlauf der Unabhängigkeitskriege und politischer Konflikte immer neue Flüchtlingsströme verursachten. In den 70er und 80er Jahren nahm das Flüchtlingsproblem globale Ausmaße an; zahllose Flüchtlinge verliessen Afghanistan, Indochina, Sri Lanka, Lateinamerika und der Karibik. In den 90er Jahren machten die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien und später in Tschetschenien deutlich, dass das Flüchtlingsproblem auch in Europa bei weitem noch nicht gelöst ist. In allen diesen Fällen haben viele Kirchen großzügig Hilfe geleistet und sind mutig für die Flüchtlinge eingetreten. In diesen Fällen hatte die Arbeit des ÖRK für entwurzelte Menschen wie zu Beginn eine starke anwaltliche Komponente.

Binnenflüchtlinge

Zur gleichen Zeit wurde den Kirchen bewusst, dass die Probleme der Vertreibung weit über die Nöte von Flüchtlingen im traditionellen Sinne hinausgingen. Immer mehr Menschen wurden durch Gewaltmaßnahmen entwurzelt, ohne dass sie ihr Heimatland verlassen konnten. Sie flohen aus denselben Gründen wie Flüchtlinge, aber hatten häufig mehr Schutz und Hilfe nötig; doch es gab keine internationale Institution wie den Hohen Kommissar für Flüchtlinge, an den sie sich um Hilfe hätten wenden können. In Zusammenarbeit mit dem beratenden Ausschuss der Quäker (Friends World Committee for Consultation - FWCC) hat der ÖRK die Initiative ergriffen, das Problem der Binnenflüchtlinge international zur Sprache zu bringen, und der UNO-Menschenrechtskommission Dokumentationen zu ihrer Lage vorgelegt.

Ausländische Arbeitnehmer

Die Bedürfnisse der ausländischen Arbeitnehmer, die ihr Land zumeist "freiwillig" aus wirtschaftlichen Gründen verlassen haben, wurde immer von dem der Flüchtlinge, die vor Verfolgung geflohen sind, gesondert behandelt. Doch im Zeitalter der Globalisierung mit der wachsenden Ungleichheit ist für immer mehr marginalisierte Menschen das Überleben im eigenen Land unmöglich geworden. Während das Völkerrecht klar zwischen Flüchtlingen, ausländischen Arbeitnehmern, Binnenflüchtlingen und Rückkehrern unterscheidet, sehen die Kirchen ihre Aufgabe darin, allen Menschen in Not zu helfen. Die 1995 herausgegebene Grundsatzerklärung des ÖRK zu "entwurzelten Menschen" schließt daher alle ein, die ihre Gemeinschaften verlassen mussten, ohne Rücksicht darauf, welcher Kategorie sie von der Weltgemeinschaft zugeordnet worden sind.

Schutz

International werden die Völkerrechtsnormen zum Schutz von Flüchtlingen von vielen Seiten angegriffen:

  • In dem Bemühen, die Zahl der Asylbewerber, die an ihre Grenzen gelangen, einzuschränken, fordern die Regierungen zunehmend eine enge Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und ihres Protokolls von 1967. Es wird behauptet, dass nur von ihrem eigenen Staat verfolgte Einzelpersonen ein Recht auf Asyl hätten, während diejenigen, die von nichtstaatlichen Akteuren verfolgt werden oder die in einem Land ohne ein funktionierendes Staatswesen leben, abzuweisen wären.

  • Einige Staaten vertreten die Auffassung, dass Frauen, die wegen ihres Geschlechts verfolgt werden, einen Anspruch auf Gewährung von Asyl haben, andere erkennen indessen Verfolgung aus Gründen der Geschlechtszugehörigkeit als Asylgrund nicht an. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 sieht Einzelfallentscheidungen für Asylanträge vor; viele Regierungen schließen indessen routinemäßig ganze Gruppen einzelner Flüchtlinge aus dem Asylverfahren aus. Einige Regierungen zweifeln das weithin anerkannte Recht auf Familienzusammenführung, das Recht anerkannter Flüchtlinge auf Nachzug ihrer Angehörigen, an.

  • Immer mehr Regierungen fordern angesichts der wachsenden Migrationsströme sogar eine Überprüfung des Abkommens selbst. Das lässt befürchten, dass die völkerrechtlichen Normen noch mehr abgeschwächt werden.

  • Der UNHCR steht unter gewaltigem finanziellem Druck, der ihn daran hindern kann, seinem Auftrag gerecht zu werden, und einige Regierungen wenden sich nunmehr anderen Stellen zu, die die führende Rolle bei der Bewältigung der humanitären Notstände infolge der Massenvertreibungen übernehmen sollen.

  • Trotz mehr als 13-jähriger Bemühungen sind vorgeschlagene völkerrechtliche Normen für den Schutz von Binnenflüchtlingen von den Vereinten Nationen bisher nicht erlassen und auch praktisch noch nicht angewandt worden.

  • Zehn Jahre nach Annahme durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen sind noch zu wenige Staaten der Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte ausländischer Arbeitskräfte und ihrer Familienangehörigen von 1990 beigetreten; noch keines der Länder, die ausländische Arbeitnehmer in großer Zahl aufgenommen haben, hat bisher die Konvention unterzeichnet.

    Weitere allgemeine Trends bezüglich entwurzelter Menschen geben Anlass zu ernster Besorgnis:

  • Zunehmende Fremdenfeindlichkeit und rassistische Übergriffe gegen Flüchtlinge und ausländische Arbeitskräfte in vielen Ländern.
  • Zunehmende Tendenz dazu, Migranten zu kriminalisieren anstatt sie als Opfer international organisierter Menschenhändler zu betrachten.
  • Rückgang der von staatlichen und kirchlichen Stellen geleisteten finanziellen Unterstützung für ökumenische und kirchliche Dienste, die sich für entwurzelte Menschen in den am schwersten betroffenen Regionen der Welt einsetzen.

    In der Überzeugung, dass die Kirchen die angelaufenen internationalen Initiativen zur Eindämmung dieser Entwicklungen unterstützen und ihren Dienst an Entwurzelten gemäss der ÖRK-Grundsatzerklärung von 1995 ausbauen können und müssen, wird die folgende Erklärung vorgelegt:

    Der Exekutivausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen, auf seiner Tagung in Berlin (Deutschland) vom 26. - 27. Januar 2001,

    Eingedenk und in Bekräftigung der Grundsatzerklärung des Zentralausschusses 1995, Ein Moment der Entscheidung: Solidarität mit den Entwurzelten;

    In Anerkennung der zunehmenden Komplexität und Härte der Situation, mit der entwurzelte Menschen und die Kirchen, die ihnen zu helfen versuchen, konfrontiert sind;

    Eingedenk der Bedeutung völkerrechtlicher Normen für den Schutz und die Unterstützung aller hilfsbedürftigen Entwurzelten;

    In Kenntnis des schwerwiegenden und zunehmenden Mangels an Massnahmen zum Schutz von Flüchtlingen, Binnenflüchtlingen und ausländischen Arbeitskräften;

    Im Bewusstsein des zunehmend rassistischen und fremdenfeindlichen Klimas in vielen Ländern der Welt, und

    In Anerkennung der Bemühungen von Kirchen zahlreicher Länder, Solidarität mit den Opfern fremdenfeindlicher Übergriffe zu praktizieren und ein gastfreundliches Klima für entwurzelte Menschen zu fördern,

    Bekräftigt den Dienst an Entwurzelten als einen Schwerpunkt des biblischen Auftrags der Kirchen;

    Appelliert erneut an die Kirchen in allen Regionen, denjenigen Menschen Unterstützung, Solidarität und Begleitung zu gewähren, die zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen worden sind, und die kirchlichen und ökumenischen Dienste für Entwurzelte auszubauen;

    Begrüsst und bekräftigt die Erklärung, in der sich der Exekutivausschuss im September 2000 anlässlich des 50jährigen Bestehens des UNHCR für dessen zentrale Schutzmandat aussprach;

    Fordert Kirchen und kirchliche Organisationen dringend auf, ihre finanzielle Unterstützung für die ökumenische Arbeit mit Entwurzelten vor allem in den am schwersten betroffenen Regionen zu überprüfen und aufzustocken;

    Ermutigt die Kirchen, bei den Regierungen ihrer eigenen Länder, bei den zuständigen regionalen zwischenstaatlichen und bei den internationalen Gremien die Interessen der Flüchtlinge, aus ausländischen Arbeitskräfte und Binnenflüchtlinge zu vertreten, und zwar insbesondere im Hinblick auf

  • die Bereitstellung angemessener finanzieller und politischer Unterstützung für UNHCR und UNWRA;
  • die vom UNHCR organisierten internationalen Konsultationen zum Flüchtlingsschutz, wobei die UN-Flüchtlingskonvention von 1951 sowie eine Auslegung dieser Konvention, die auch die Anerkennung nichtstaatlicher Akteure als Verantwortliche für Verfolgung, geschlechtsbezogene Verfolgung als Asylgrund, die restriktive Handhabung der Ausschliessung vom Asylrecht und das Recht der Flüchtlinge auf Familienzusammenführung beinhaltet, bekräftigt werden sollten;
  • internationale Diskussionen über den Schutz von Binnenflüchtlingen und ihre Unterstützung, wobei der Ständige interinstitutionelle Ausschuss aufgefordert werden sollte, wirksame Koordinierungsmechanismen zu entwickeln, und wobei ferner das Interinstitutionelle Netzwerk der Vereinten Nationen für Binnenflüchtlinge unterstützt werden sollte;
  • die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte ausländischer Arbeitskräfte und ihrer Familienangehörigen (1990), wobei die Kirchen ihre Regierungen auffordern sollten, diese Konvention so bald wie möglich zu unterzeichnen und zu ratifizieren sowie dazu zu verwenden, der Öffentlichkeit die spezifischen Bedürfnisse von Flüchtlingen in der jeweiligen Gesellschaft bewusst zu machen;
  • die Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz, wobei sie bei ihren Regierungen sowie im Rahmen des UN-Vorbereitungsprozesses darauf hinwirken sollten, dass die Konferenz die spezifischen Formen von Missbrauch, denen Migranten ausgesetzt sind, behandelt.


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