Ökumenischer Rat der Kirchen
ZENTRALAUSSCHUSS
Potsdam, Deutschland
29. Januar - 6. Februar 2001
Dokument Nr. GS 2


Zur Beschlussfassung / Sperrfrist: Frei nach Vorlage im Plenum

BERICHT DES GENERALSEKRETÄRS

1. Wie zuvor der Moderator, möchte auch ich Sie herzlich begrüssen. Diesmal habe ich die besondere Freude, Sie in meinem eigenen Land und seiner wiedervereinigten Hauptstadt Berlin willkommen heissen zu können. Auch wenn unsere Sitzung aus praktischen Gründen in Potsdam stattfindet, sind wir uns doch des prägenden Einflusses bewusst, den Berlin für Deutschland und Europa im ganzen hat. Als wir vor 16 Monaten in Genf zusammen waren, hatte Bischof Huber, der Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg, die Möglichkeit angedeutet, den Zentralausschuss zu seiner nächsten Sitzung nach Berlin einzuladen. Nachdem die Voraussetzungen geklärt waren und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland entschieden hatte, die Einladung durch einen grosszügigen finanziellen Zuschuss zu unterstützen, gab der Exekutivausschuss mit Dank seine Zustimmung.

2. Seither haben sowohl in Potsdam und Berlin wie auch in Genf intensive Vorbereitungen für diese Sitzung stattgefunden. Wir danken unseren Gastgebern für ihren herzlichen Empfang. Diese Tagung des Zentralausschusses ist sowohl hier in Berlin und Potsdam wie auch darüber hinaus auf lebhaftes Interesse gestossen. Sie werden dies bereits bei dem Eröffnungsgottesdienst gestern abend, der von Vertretern der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland vorbereitet und geleitet wurde, wie auch bei dem anschliessenden Empfang bemerkt haben. Unsere Morgenandachten in den kommenden Tagen werden geleitet von Vertretern der christlichen Kirchen in Berlin und Umgebung, die im Ökumenischen Rat Berlin-Brandenburg zusammengeschlossen sind. Unser Programm wird darüber hinaus vielfältige Möglichkeiten bieten, Vertreter des kirchlichen und politischen Lebens in Deutschland zu hören und mit ihnen zusammenzutreffen. Wir hoffen, dass diese Begegnungen Ihnen einen Eindruck vom Leben in diesem Land zehn Jahre nach der Vereinigung und von den ökumenischen Aktivitäten der deutschen Kirchen vermitteln werden.

3. Bei der Vorlage meines Berichtes werde ich zunächst auf den Kontext unserer Tagung eingehen. Er gibt Anlass darüber nachzudenken, was es bedeutet, dass wir in die wiedervereinigte Hauptstadt Deutschlands gekommen sind, die nun nicht länger ein Symbol der Teilung, sondern des beginnenden Prozesses der Versöhnung in Europa ist. Dies eröffnet eine neue Perspektive auf die Periode des Kalten Krieges und kann unser Nachdenken über die Überwindung von Gewalt anregen. Ich werde dann auf einige Entwicklungen im Leben des Ökumenischen Rates seit unserer letzten Tagung im Jahr 1999 eingehen. Im Schlussteil möchte ich den thematischen Akzent auf dem "Kirchesein" aus dem Bericht des Programmausschusses bei unserer letzten Sitzung aufgreifen, um über die kirchliche Identität konziliarer ökumenischer Organisationen nachzudenken.

I. Der Kontext

4. Dies ist natürlich nicht das erste Mal, dass ein Zentralausschuss des Ökumenischen Rates in Deutschland tagt. Für viele von Ihnen, wenn nicht für die Mehrheit, wird es jedoch der erste Besuch in diesem Land und in Berlin sein. Ein Rückblick auf die drei früheren Gelegenheiten, bei denen der Zentralausschuss in Deutschland tagte, mag hilfreich sein, um Sie in den Kontext unserer Tagung einzuführen, der in so vielfältiger Weise mit dem Leben des Ökumenischen Rates während der letzten Jahrzehnte verwoben war.

5. In den 40 Jahren nach der Gründungsvollversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948 waren ökumenische Entwicklungen stark geprägt von der ideologischen und militärischen Block-konfrontation des Kalten Krieges, die im sog. „Eisernen Vorhang“, der mitten durch Deutschland verlief, ihren symbolischen Ausdruck fand. An keinem anderen Ort schlug sich diese Geschichte so dramatisch in der Erfahrung nieder wie in der geteilten Stadt Berlin. Jahrzehntelang waren die deutschen Kirchen in Ost und West die einzigen Institutionen, die diese Trennungslinie über-brückten, und ihre besondere Beziehung blieb auch nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 erhalten. Die Verbindungen des ÖRK mit den Kirchen in den beiden deutschen Staaten wurden zum Testfall für die Entschlossenheit der ökumenischen Bewegung, die konfrontative Grundhaltung des Kalten Krieges zu überwinden und Brücken zu bauen.

6. Die früheren Tagungen des Zentralausschusses in Deutschland lassen daher etwas von den Spannungen und Zweideutigkeiten dieser Situation erkennen. 1974 tagte der Zentralausschuss zum ersten Mal in Berlin (West). Dies war die offizielle Bezeichnung für die politische Einheit der westlichen Bezirke der geteilten Stadt, deren Status Gegenstand von spannungsvollen Diskussionen zwischen den vier Mächten war, die nach internationalem Recht nach wie vor die Gesamt-verantwortung für die Stadt innehatten. Das Projekt einer Zentralausschuss-Sitzung in Berlin erforderte schwierige Verhandlungen und bereitete den Regierungsstellen der DDR erhebliche Kopfschmerzen. Es entsprach den politischen Realitäten des geteilten Deutschland, dass der Exekutivausschuss des ÖRK auf Einladung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR am Anfang des gleichen Jahres in Bad Saarow östlich von Berlin zusammen kam. Eine vor kurzem veröffentlichte Zusammenstellung von Materialien aus den staatlichen Archiven der früheren DDR lässt erkennen, wie intensiv die beiden Tagungen in Berlin und Bad Saarow beobachtet wurden, und welche Anstrengungen unternommen wurden, um sie politisch zu beeinflussen. Nichts davon hat sich natürlich im Protokoll des Zentralausschusses niedergeschlagen, das sich vor allem mit den schwierigen Entscheidungen im Vorfeld der Fünften Vollversammlung des ÖRK befasst, die von Jakarta nach Nairobi verlegt werden musste. Andere werden sich an die Sitzung in Berlin erinnern als die Gelegenheit, bei der über die Fortführung des Programms zur Bekämpfung des Rassismus beraten und entschieden wurde; dieses Programm war zu einem Streitpunkt innerhalb und zwischen den Kirchen in den beiden deutschen Staaten geworden.

7. Sieben Jahre später trat der Zentralausschuss wieder in Deutschland zusammen, diesmal in Dresden auf Einladung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Nur einmal zuvor, nämlich im Jahr 1956 in Galyatetö, Ungarn, hatte eine Sitzung des Zentralausschusses in einem der kommunistisch beherrschten Länder in Mittel- und Osteuropa stattgefunden. Das Protokoll der Sitzung in Dresden gibt die Grüsse der Vertreter von Kirche und Regierung in der DDR wieder und fasst die Berichte des Moderators und des Generalsekretärs zusammen; sie alle waren sich der besonderen Situation bewusst. Nur zwischen den Zeilen freilich und besonders in der öffentlichen Erklärung über "Zunehmende Bedrohung des Friedens und die Aufgaben der Kirchen" nimmt das Protokoll Bezug auf die intensive Diskussion unter den Kirchen des Landes über ihre Verantwortung für den Frieden und insbesondere über die Anerkennung einer Alternative zum Militärdienst in Gestalt eines "sozialen Friedensdienstes". Die Diskussionen in Dresden wurden zu einem der Auslöser des konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, der von der Vollversammlung in Vancouver angestossen wurde. Andere werden sich an den Zentralausschuss in Dresden erinnern als den entscheidenden Moment in der Diskussion über die Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche im Zusammenhang mit der Entgegen-nahme des Berichtes und der Empfehlungen der Sheffield-Konsultation, die kurz vorher stattgefunden hatte.

8. Noch einmal sieben Jahre später traf sich der Zentralausschuss erneut in Deutschland, diesmal in Hannover in der Bundesrepublik Deutschland, der Stadt, in der das Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland beheimatet ist. Im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Tagungen spielte diesmal die besondere Situation des geteilten Deutschland in den Diskussionen keine besondere Rolle. Im Vordergrund stand vielmehr das 40. Jubiläum der Vollversammlung in Amsterdam und die Beschäftigung mit dem Thema und dem Programm der Siebten Vollver-sammlung. Dennoch nahm die Tagung die ersten Anzeichen der sich anbahnenden Veränderungen in Europa wahr. In einer "Erklärung zu neuen Entwicklungen in den internationalen Beziehungen" brachte sie ihre Befriedigung darüber zum Ausdruck, dass es ganz so aussieht, "als entstehe ein neues internationales Klima, für das die Kirchen seit langem gebetet und gearbeitet haben. Zuviel Optimismus ist vielleicht noch nicht angezeigt, doch die Hoffnungszeichen machen Mut." So sollte nach Meinung des Zentralausschusses "der Analyse neuer Entwicklungen in sozialistischen Ländern besondere Aufmerksamkeit (gewidmet werden), und zwar insbesondere den wirtschaftlichen und politischen Veränderungen und den Möglichkeiten neuer Ansätze in weltanschaulichen und philosophischen Fragen. Die neuen Entwicklungen haben weitreichende Auswirkungen auf das Leben und Zeugnis der Kirchen in diesen Ländern und auf die ökumenische Gemeinschaft." In der Diskussion wurden vor allem die damaligen Veränderungen in der UdSSR erwähnt, während es erhebliche Meinungsverschiedenheiten gab, wie auf die Situation in Rumänien zu reagieren sei.

9. Nun tagen wir zum vierten Mal in Deutschland. In den 12 Jahren seit der Sitzung in Hannover haben sich in Europa und weltweit dramatische Veränderungen vollzogen, die hier in Berlin handgreiflich zum Ausdruck kommen. Die Mauer, durch welche die Stadt während 28 Jahren geteilt war, ist verschwunden. Deutschland ist vereinigt, und der Heilungsprozess der Spaltung Europas gewinnt Kraft, nachdem die Pariser Charta für Europa 1991 das Ende des Kalten Krieges besiegelt hat. Was 1988 noch Hoffnungszeichen waren, ist zu einer dynamischen neuen Wirklichkeit geworden, die die Kirchen vor frische und verwirrende Herausforderungen stellt. Während wir über die neue Wirklichkeit des heutigen Europa nachdenken, sind wir uns gleichzeitig der fortdauernden Teilung Koreas und Zyperns und der Konflikte um Jerusalem bewusst. Diese Fragen waren bereits Teil der Tagesordnung der ersten Sitzung in Berlin im Jahr 1974, und sie haben seither unsere ökumenische Aufmerksamkeit in Anspruch genommen.

10. Die Teilung Deutschlands und Europas nach dem Zweiten Weltkrieg hatte nicht nur eine ideologische Grenze aufgerichtet, sondern sie hatte auch die geschichtliche Erinnerung der betroffenen Völker abgeschnitten. Der Kalte Krieg hatte diese Trennung in einen militanten Gegensatz verwandelt. Seit 1990 stehen Deutschland und Europa im ganzen vor der Heraus-forderung, sich die unterdrückten und fremd gewordenen Teile ihrer Geschichte und Identität neu anzueignen. In Deutschland stehen sowohl Potsdam wie auch das vereinigte Berlin für wichtige Phasen der nationalen Geschichte, die neu angeeignet werden müssen. Potsdam - die Residenz der preussischen Könige - war sowohl ein Symbol für militärische Disziplin wie auch für Toleranz, wie sie sich in den seit dem 18. Jahrhundert entstandenen französischen, böhmischen, holländischen oder russischen Kolonien zeigt. Berlin, seit 1871 die Hauptstadt des neuen Deutschen Reiches, war ein Symbol sowohl für die schöpferischsten wie auch für die destruktivsten Züge der modernen deutschen Geschichte. Am Sonntag, 4. Februar, sind wir eingeladen, in Verbindung mit der Eröffnung der Dekade zur Überwindung der Gewalt uns an einem kurzen Pilger- und Gedenkweg zu beteiligen und so sensibel zu werden für die Aufgabe, die Fragmente der Geschichte wieder zusammenzufügen, was heute die gemeinsame Herausforderung für die Völker Europas ist.

11. Heute ist Berlin wieder die Hauptstadt Deutschlands und seit dem letzten Jahr auch Regierungs-sitz. Der Übergang hat sich ohne grössere Probleme vollzogen, und der Prozess der Vereinigung des Landes ist wenigstens auf der politischen Ebene zum Abschluss gekommen. Die in 40 Jahren getrennten Mentalitäten und Identitäten lassen sich freilich nicht so leicht zusammenfügen. Dies ist die Aufgabe in Europa im ganzen. Berlin ist näher an Polen und der Tschechischen Republik als an Frankreich oder dem Vereinigten Königreich. Daher sind Potsdam und Berlin ein geeigneter Ort für den regionalen Schwerpunkt auf Europa, der für diese Tagung des Zentralausschusses in Aussicht genommen ist. Der Exekutivausschuss hat für diesen Prozess des Austauschs und des Nachdenkens das übergreifende Thema "Versöhnung, Wahrheit und Gerechtigkeit" vorgeschlagen; dabei soll es darum gehen, die geschichtlichen Erfahrungen und gegenwärtigen Antworten von Christen in Europa herauszustellen. Wir werden Zeugnisse über die Erfahrungen von Christen und Kirchen mit dem Erbe des Nationalsozialismus und Faschismus hören; mit dem Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung; mit gespaltenen Erinnerungen und der Suche nach Wahrheit in post-kommunistischen Gesellschaften und mit den heutigen Situationen von Gewalt, Heilung und Versöhnung. Bei diesem Erfahrungsaustausch wird es um folgende Fragen gehen: Wann wird die Suche nach der Wahrheit zum Feind von Versöhnung? Wessen Erinnerungen, Erfahrungen oder schriftliche Aufzeichnungen bestimmen die Geschichten, die wir über uns selbst und über andere erzählen? Wie wirkt sich unser christlicher Glaube darauf aus, ob wir Gerechtigkeit als strafend oder aufbauend verstehen? Wie können Kirchen davon befreit werden, Teil des Problems zu sein, und stattdessen lernen, zu einem Teil der Lösung zu werden? Diese Fragen haben auch die Kirchen in Südafrika, Argentinien, Chile, Guatemala und El Salvador umgetrieben. Ihre Erfahrung mit Wahrheitskommissionen könnte auch für Europa von Bedeutung sein in der Auseinandersetzung mit dem Erbe des Kalten Krieges.

12. Es gibt nur wenige Orte in Europa, an denen das Erbe des Kalten Krieges so gegenwärtig ist wie hier in Berlin. Daher ist die Suche nach Wahrheit und die Bemühung um die Versöhnung der Erinnerungen an diesem Ort nicht nur eine rein intellektuelle Übung; sie ist vielmehr unausweich-lich notwendig, um eine tragfähige Basis für das Zusammenleben wieder herzustellen. Davon sind, zusammen mit der ganzen Gesellschaft, nicht zuletzt auch die Kirchen und ihre Rolle während des Kalten Krieges betroffen. Die unmittelbare Aufgabe, die politischen, wirtschaftlichen und strukturellen Veränderungen nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft in Mittel- und Osteuropa zu verarbeiten, hat wenig Zeit und Raum gelassen, um auf die unterschiedlichen Erinnerungen und Formen christlichen Zeugnisses in einem geteilten Europa zu hören und einzugehen. Nicht allein in Deutschland, sondern in Europa insgesamt, scheint die westliche Perspektive und Erfahrung zur Norm geworden zu sein, und es gibt nur wenig Bereitschaft, Europa und die Rolle der Kirchen aus der Sicht von Mittel- und Osteuropa zu sehen. Es trifft zwar zu, dass die Kirchen dort ihre Freiheit wiedererlangt haben; aber sie erkennen jetzt, in welchem Ausmass die Säkularisierung während der Periode kommunistischer Herrschaft vorangeschritten ist. Wie sollen sie ihre Positionen in Verhandlungen mit den neuen Regierungen festlegen, wo es um gesetzliche oder verfassungsmässige Garantien von Religionsfreiheit, christlicher Erziehung in Schulen, Rückgabe kirchlichen Eigentums usw. geht? Sie hatten lernen müssen, als Kirchen ohne Privilegien in einer ideologischen Diasporasituation zu leben. Was ist diese Erfahrung heute noch wert? Sie mussten mit den Realitäten des Staatssozialismus und seinem allgegenwärtigen Kontrollsystem zurecht kommen ohne eine realistische Hoffnung auf Veränderung. Was können sie vermitteln an Erfahrungen über die Bewahrung der Integrität der Kirche in einer feindlichen Umgebung?

13. Und was war die Rolle der ökumenischen Organisationen während dieser langen Periode des Kalten Krieges? Unter den Bedingungen der ideologischen Konfrontation und der Selbstisolierung des kommunistischen Teils Europas war die Herstellung ökumenischer Beziehungen für viele der Kirchen in Mittel- und Osteuropa zu einer Überlebensfrage geworden. War der Preis, den sie für die Herstellung und Pflege ökumenischer Beziehungen durch den Ökumenischen Rat, die Konferenz Europäischer Kirchen oder die Christliche Friedenskonferenz zahlen mussten, zu hoch? Hätte die Stimme derer, die zu "Dissidenten" in ihren jeweiligen Kirchen und Gesellschaften geworden sind, deutlicher gehört, anerkannt und unterstützt werden müssen?

14. Es sollte nicht überraschen, dass diese Fragen hier in Deutschland mit besonderer Dringlichkeit gestellt werden und dass sie auch an den Ökumenischen Rat gerichtet werden. Dies ist zum Teil dem besonderen Umstand zu verdanken, dass Materialien der staatlichen Archive der früheren DDR weitgehend für historische Forschung zugänglich gemacht worden sind. Im letzten Jahr ist in Deutschland eine umfangreiche Untersuchung veröffentlicht worden, die sich mit dem Ökumenischen Rat, den amerikanischen Kirchen und der Christlichen Friedenskonferenz während der Periode des Kalten Krieges befasst. Diese sehr kritische Analyse der Positionen und Initiativen des Ökumenischen Rates hat nachdenkliche Reaktionen bei Kirchenvertretern in Ost und West ausgelöst und insbesondere den früheren Moderator des Zentralausschusses, Bischof Dr. Heinz Joachim Held, zu einer gleichfalls sehr detaillierten Antwort veranlasst. Im Mittelpunkt der Analyse stand die Haltung der ökumenischen Organisationen zu Verletzungen der Menschenrechte und besonders der Religionsfreiheit in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Dies ist eine legitime Perspektive, die im Dialog mit früheren Dissidenten, wie z.B. Mitgliedern der Charta 77 in der Tschechischen Republik, verstärkt worden ist. Es ist freilich nicht die einzige Perspektive für eine Analyse dieser Periode in der Geschichte von Kirche und Gesellschaft in Europa. So kann man die Frage stellen und untersuchen, wieviel die Kirchen mit ihrem Zeugnis für Frieden in Gerechtigkeit zu der gewaltfreien Revolution beigetragen haben, die in Mittel- und Osteuropa stattfand. Was können wir aus dieser Erfahrung für das gegenwärtige Engagement der ökumenischen Bewegung zur Überwindung von Gewalt lernen? In jedem Fall sollte deutlich geworden sein, dass die Neubearbeitung dieser entscheidenden Periode der Geschichte sowohl für den europäischen Kontext wie für die ökumenische Bewegung ein entscheidender Schritt ist in dem Prozess der Versöhnung der Erinnerungen und des Zusammenwachsens der getrennten Teile Europas. Der ÖRK und auch die Konferenz Europäischer Kirchen wollen sich dieser Aufgabe stellen. Wir hoffen, dass diese Tagung des Zentralausschusses uns neue Einsichten vermittelt und sichtbar werden lässt, dass dieser Prozess für die weltweite ökumenische Bewegung von Bedeutung ist.

15. Aber die Frage von Versöhnung, Wahrheit und Gerechtigkeit und die Aufgabe der Versöhnung der Erinnerungen stellt sich nicht nur im Blick auf die belastete europäische Vergangenheit. Sie betrifft auch unsere Reaktion auf die Spannungen und Gegensätze im heutigen Europa. Die Veränderungen in Europa nach 1990 haben in ihrer weiteren Entfaltung oft eine gewaltsame Wendung genommen, wie z.B. im Auseinanderbrechen der früheren Sowjetunion, besonders in der Kaukasusregion, oder in den Kriegen zwischen unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gemeinschaften im früheren Jugoslawien. In ihrer Antwort darauf haben sich die Kirchen in schwere Auseinandersetzungen verwickelt, wobei manchmal die Spaltungen der Periode des Kalten Krieges reproduziert wurden. Neue Beispiele von Rassismus, Antisemitismus und aggressiver Fremdenfeindlichkeit sind in vielen europäischen Ländern aufgetaucht, sowohl im Westen wie im Osten. Wir haben es noch immer zu tun mit einer ausgrenzenden, defensiven, in Gegensätzen denkenden Mentalität, die Feindbilder projiziert und keine Toleranz aufbringt gegenüber allem, was ausländisch und fremd ist in einer zunehmend pluralistischen und multikulturellen Umgebung. Einige Padare-Sitzungen während dieser Tagung werden sich mit diesen neuen Konfliktsituationen in Deutschland und Europa und der Antwort der Kirchen darauf befassen. Dabei wird sich auch die Gelegenheit ergeben, die Querverbindungen herzustellen zu Situationen von rassischen, ethnischen oder nationalen Konflikten in anderen Regionen.

16. Nach diesen Bemerkungen über den Kontext unserer Tagung sollte deutlich sein, dass die Herausforderungen an christliches Zeugnis hier und in der weiteren europäischen Region von Bedeutung sind für die ökumenische Bewegung im ganzen. Es trifft sich daher gut, dass die Eröffnung der Dekade zur Überwindung von Gewalt gerade hier stattfinden wird. Die Synoden der Evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg und der Evangelischen Kirche in Deutschland ebenso wie die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland haben die Dekade begrüsst und erste Schritte der aktiven Unterstützung in die Wege geleitet. Bischof Huber hat in einem Pastoralbrief im Vorblick auf diese Sitzung des Zentralausschusses die Bedeutung der Tatsache herausgehoben, dass die Eröffnung der Dekade an dem Tag stattfinden wird, an dem Dietrich Bonhoeffer 95 Jahre alt geworden wäre. Der Name Dietrich Bonhoeffers ist nicht nur aufs engste mit Berlin und mit dem Kontext unserer Tagung verbunden; er ist darüber hinaus zu einem ökumenischen Propheten für Frieden und Versöhnung, Wahrheit und Gerechtigkeit geworden. "Im Sinn Dietrich Bonhoeffers," schreibt Bischof Huber, "sind wir heute in dieser Stadt und in diesem Land unter anderen Bedingungen erneut aufgerufen, Gewalttätern in den Arm zu fallen, gegen Menschenverachtung und organisierte Brutalität aufzustehen und uns für Bedrohte einzusetzen. Auch für uns ist die Dekade eine Hilfe zur Überwindung von Gewalt, so wie für viele Menschen in aller Welt in ihren alltäglichen Konflikten."

II. Einige Entwicklungen im Leben des ÖRK

17. Mehr als zwei Jahre sind vergangen seit der Vollversammlung in Harare. Im Jahr 1999 war die Tagesordnung dieses neu zusammengesetzten Zentralausschusses geprägt von der Auswertung der Vollversammlung und der Festlegung der Programmperspektiven für die neue Siebenjahresperiode. Auf die Empfehlung des Programmausschusses hin beschloss der Zentralausschuss die Annahme eines Rahmenplans für die Arbeit des Rates, der um vier grössere Themenkreise gruppiert ist: (1) Kirchesein; (2) für das Leben eintreten; (3) Dienst der Versöhnung; und (4) gemeinsames Zeugnis und Dienst inmitten der Globalisierung. Der Zentralausschuss ernannte auch die Mitglieder der Kommissionen und Beratergruppen für die verschiedenen Arbeitsbereiche und nahm die Hauptelemente eines Dreijahresplanes für die Arbeit bis zum Zentralausschuss im Jahr 2002 zur Kenntnis. Seither haben alle Kommissionen und Beratergruppen ihre ersten Sitzungen abgehalten. Sie haben die vorgeschlagenen Arbeitspläne diskutiert und vervollständigt. Diese sind seither zusammengefügt worden zu einem umfassenden Planungsdokument "Von der Vision zur Aktion", das als Grundlage diente für die Verhandlungen mit den Finanzierungspartnern und als Bezugs-rahmen für den Neubeginn und die laufende Überprüfung der Arbeit der Teams und Clusters.

18. Zur Vorbereitung auf diese Sitzung haben Sie einen "Bericht der Amtsträger" (Dok. GS 1.1) erhalten, der die wichtigsten Beschlüsse und Entscheidungen des Exekutivausschusses bei seinen zwei Sitzungen im März und September 2000 und der Amtsträger bei ihren zwischenzeitlichen Sitzungen im Dezember 1999 wie im Juni und November 2000 zusammenfasst. Die detaillierten Arbeitsberichte sind dem Programmausschuss vorgelegt worden, der bereits eine dreitägige Sitzung unmittelbar vor dieser Tagung des Zentralausschusses abgehalten hat und Ihnen morgen nachmittag einen ersten Bericht vorlegen wird. Die Sendung mit vorbereitenden Dokumenten enthielt ebenso eine Übersicht über die finanzielle Situation (Dok. FSA 1) und einen Bericht über Stellungnahmen und Initiativen zu öffentlichen Angelegenheiten (Dok. PI 1). In der Annahme, dass Sie daher über die wichtigsten Vorgänge im Leben des Ökumenischen Rates während dieser vergangenen 16 Monate auf der Grundlage der erwähnten Berichte informiert sind, werde ich mich hier darauf beschränken, einige Aspekte herauszuheben, die Ihre Aufmerksamkeit verdienen.

19. Ich möchte noch einmal einsetzen bei der Auswertung der Vollversammlung. Der Zentralausschuss hatte 1999 beschlossen, "den Generalsekretär zu ersuchen, einen Reflexions-prozess über Wesen und Aufgabe der Vollversammlung auf dem Hintergrund der Impulse des CUV-Prozesses und der Vollversammlung in Harare in die Wege zu leiten und dem Zentral-ausschuss im Jahr 2001 einen Bericht vorzulegen." Dieser Reflexionsprozess sollte ein breites Umfeld berücksichtigen unter Einschluss von Vollversammlungsdelegierten, die nicht dem gegenwärtigen Zentralausschuss angehören. Aufgrund anderer, unmittelbar dringlicher Aufgaben war es bislang nicht möglich, einen solchen weit ausgreifenden Reflexionsprozess einzuleiten. Darüber hinaus führten interne Diskussionen innerhalb der Stabsleitungsgruppe zu dem Schluss, dass die Reflexion nicht bei einer Überprüfung des Prozesses, der Anlage und des Arbeitsstils von Vollversammlungen stehenbleiben dürfe; sie sollte vielmehr darauf zielen, die gesamte Leitungsstruktur des Ökumenischen Rates im Licht der CUV-Interpretation des ÖRK als einer "Gemeinschaft von Kirchen" einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Bisher ist den Konsequenzen des CUV-Prozesses für den Verfassungsrahmen und die Leitungsstrukturen des Ökumenischen Rates nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Diese Strukturen sind im wesentlichen seit der Anfangszeit des ÖRK unverändert geblieben.

20. Die Notwendigkeit einer solchen Neueinschätzung ist auch durch die Arbeit der Sonder-kommission und in Diskussionen mit ökumenischen Partnerorganisationen, insbesondere mit den regionalen ökumenischen Organisationen und den christlichen Weltgemeinschaften, bestätigt worden. Auf der Grundlage der in diesen verschiedenen Diskussionszusammenhängen gewonnenen Einsichten ist ein Diskussionspapier mit "Überlegungen zur ÖRK-Leitungsstruktur" erstellt worden, das zunächst den Amtsträgern und danach in überarbeiteter Form dem Exekutivausschuss vorgelegt wurde. Zusammen mit den Bemerkungen und Anregungen des Exekutivausschusses wird die Angelegenheit im Weisungsausschuss III weiter beraten werden, der am Ende unserer Sitzung Empfehlungen vorlegen wird, wie dieser Reflexionsprozess fortgeführt werden soll. Aus der kritischen Analyse der Leitungsstrukturen des ÖRK hat sich als Hauptfrage ergeben, wieweit die traditionelle Betonung der "legislativen Funktion" im Sinne der Erhaltung des ÖRK als Institution weiterhin aufrechterhalten werden kann. Das CUV-Dokument forderte demgegenüber Formen der Leitung, die "der Reflexion und Beratung über die zentralen Anliegen, denen sich die Kirchen heute gegenübersehen, Priorität einräumen" und die Mitgliedskirchen und ihre verantwortlichen Leiter "anregen und veranlassen (würden), - in ihren lokalen Kontexten ökumenisch zu handeln, anstatt weiter den Eindruck zu vermitteln, als seien der ÖRK und die ökumenische Bewegung losgelöst von und ausserhalb der Kirchen". Die Bestimmung des ÖRK als einer "Gemeinschaft von Kirchen" bleibt in der Tat so lange schwach, als sie nicht getragen wird von einer Praxis wirklicher Gemeinschaft zwischen den Mitgliedskirchen "an jedem Ort". Die Konsequenzen des CUV-Dokuments für die Leitungsstrukturen des ÖRK müssen noch entfaltet werden, und es ist meine Hoffnung, dass dieser Zentralausschuss die notwendigen Anregungen geben wird, wie diese Aufgabe bewältigt werden kann.

21. Über die Bestimmung des Wesens des Ökumenischen Rates als einer "Gemeinschaft von Kirchen" hinaus unterstrich das CUV-Dokument die Aufgabe des Rates, "den Zusammenhalt der einen ökumenischen Bewegung in ihren vielfältigen Ausdrucksformen" zu bewahren. Das Schlusskapitel des CUV-Dokuments behandelte daher die "Beziehungen mit Partnern in der ökumenischen Bewegung, Kirchen ausserhalb der ÖRK-Mitgliedschaft und anderen Ein-richtungen". Dies ist seit der letzten Sitzung des Zentralausschusses ein Bereich mit intensiver Aktivität geworden. Dem Weisungsausschuss I werden detaillierte Berichte vorgelegt werden über die Arbeit der Gemeinsamen Arbeitsgruppe mit der römisch-katholischen Kirche, die ihre erste Sitzung seit der Vollversammlung im Mai 2000 in Antelias abgehalten hat und sich dabei u.a. mit dem "Wesen des ökumenischen Dialogs" befasst hat; über die erste Zusammenkunft der neu gebildeten Gemeinsamen Beratungsgruppe mit der pfingstlichen Gemeinschaft auf Weltebene; über die Verbindungsgruppe mit dem LWB (und dem RWB); und über Fortschritte bei der Diskussion des Vorschlags eines "Forums christlicher Kirchen und ökumenischer Organisationen" (vgl. Dok. REL 2) wie auch über die Sonderkommission (vgl. Dok. GS 4). Ich werde später noch einmal auf den Zwischenbericht der Sonderkommission zurückkommen.

22. An dieser Stelle möchte ich jedoch eine Initiative erwähnen, die den Weg für eine neue Art von Beziehungen und Kooperation mit ökumenischen Partnern eröffnen könnte, nämlich die Gründung der "Allianz für ökumenische Anwaltschaft" im Dezember des letzten Jahres. Diese Allianz, die vom Ökumenischen Rat koordiniert wird, führt die regionalen ökumenischen Organisationen und Gemeinschaften, kirchliche Werke, vor allem im Norden, spezialisierte Netzwerke im Süden, christliche Weltgemeinschaften, internationale ökumenische und römisch-katholische Organisationen zu einem einzigartigen Kooperationsrahmen zusammen. Sie ist gedacht als ein "flexibles und offenes Instrument, das den teilnehmenden Organisationen aus der weiteren ökumenischen Familie erlaubt, strategisch zusammenzuarbeiten zu Prioritäten, die als unsere gemeinsame Aufgabe und unser Zeugnis identifiziert wurden" (Abschluss-Kommuniqué). Die Gründungsversammlung wählte zwei Bereiche aus, denen in den nächsten Jahren vorrangige Aufmerksamkeit geschenkt werden soll: (1) globale wirtschaftliche Gerechtigkeit mit einem Schwerpunkt auf dem Welthandel und (2) Ethik des Lebens mit einem Schwerpunkt auf HIV/AIDS. Anwaltschaft und prophetisches Handeln sind natürlich immer Teil der Zielsetzungen und Aktivitäten des ÖRK und anderer Partner in der Allianz gewesen. Neu ist der Entschluss, die prophetische Stimme und das Einwirken ökumenischen Zeugnisses auf die entscheidenden gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Fragen der Gegenwart zu verstärken durch die Zusammenfassung der Mittel und Erfahrungen der Partnerorganisationen in der ökumenischen Bewegung.

23. In vielerlei Hinsicht ist das Projekt der Allianz eine Antwort auf die neue Situation, die durch den Prozess der Globalisierung entstanden ist. Um sich auf globale Strukturen und Entscheidungs-prozesse einzustellen, müssen die ökumenischen Partner über die Begrenzungen ihrer traditionellen Bezugsfelder und ihrer herkömmlichen Arbeitsweisen hinausgehen und versuchen, einen wirksamen Rahmen für die Kooperation und die wechselseitige Unterstützung herzustellen. Die Allianz ist Ausdruck der Bemühung, einen offenen ökumenischen Raum zu schaffen, der allen Partnern in der ökumenischen Bewegung gleichberechtigte Beteiligung ermöglicht. Die Allianz löst sich von der institutionellen Logik der meisten ökumenischen Organisationen, die auf die formale Mitgliedschaft von Kirchen oder Gemeinschaften ausgerichtet ist, und möchte stattdessen die freiwillige Beteiligung auf der Grundlage eines Engagements für bestimmte Aufgaben befördern. Die Allianz könnte so zu einem neuen Modell ökumenischer Kooperation und zu einer Quelle neuer Inspiration und Ermutigung werden und zeigen, dass die ökumenische Bewegung in der Lage ist, eine Alternative zum Prozess der Globalisierung zu entwickeln, die auf Solidarität und Kooperation beruht statt auf Wettbewerb und Konfrontation. Die ÖRK-Initiativen zu den Problemen der ökonomischen Globalisierung werden das Thema einer besonderen Plenarsitzung morgen sein.

24. Die Gründung der Allianz ist nur ein Anzeichen dafür, dass es notwendig ist, neue ökumenische Initiativen im Blick auf die sich herausbildende globale Situation zu entwickeln. Zwei andere Beispiele sollten wenigstens kurz erwähnt werden. Im Juni des letzten Jahres fand in Genf eine Sondersitzung der Vollversammlung der Vereinten Nationen statt, um an den Themen des Weltgipfels für soziale Entwicklung in Kopenhagen 1995 weiter zu arbeiten. Der ÖRK hat sich durch ein grosses ökumenisches Team aktiv an der Begleitung und Beobachtung dieses Ereignisses beteiligt. Der potentielle Einfluss des ÖRK unter den anderen internationalen NROs und den Organisationen der Zivilgesellschaft auf globaler Ebene kam zum Vorschein, als unser offener Brief an den Generalsekretär der Vereinten Nationen kritische Anfragen an seine uneingeschränkte Unterstützung des Dokuments "Eine bessere Welt für alle", in dem die Positionen der internationalen Finanzinstitutionen und ihr Verständnis von sozialer Entwicklung vorgestellt wurden, richtete. In den Monaten seither ist der ÖRK von verschiedenen Seiten, u.a. dem Internationalen Währungsfonds und dem Weltwirtschaftsforum, eingeladen worden, sich an Diskussionen über die ethischen Probleme und einen Rahmen von gemeinsamen Werten zu beteiligen, der dem Prozess der Globalisierung Orientierung geben könnte. Eine ähnlich ausgerichtete Initiative war der Millenniums-Weltfriedensgipfel von religiösen und geistlichen Führern, der im August des letzten Jahres am Sitz der Vereinten Nationen in New York in Aufnahme eines Vorschlags des UNO-Generalsekretärs stattfand. Abgesehen von einer Erklärung des gemeinsamen Engagements für den Frieden erzielte dieser Gipfel keine spezifischen Ergebnisse. Er war jedoch ein weiteres Anzeichen dafür, dass der Prozess der Globalisierung neue Fragen aufwirft über die Rolle von Religion und religiösen Gemeinschaften im öffentlichen Leben und über die Ziele des interreligiösen Dialogs.

25. Zusätzlich zu den Schwerpunkten auf dem Dienst für Versöhnung und dem Zeugnis und Dienst inmitten der Globalisierung schlug der Bericht des Programmausschusses im Jahr 1999 das Eintreten für das Leben als ein weiteres übergreifendes Thema für die Arbeit des Rates vor. Der Bericht erwähnt besonders "die geistlichen Dimensionen des Eintretens für das Leben, insbesondere im Zusammenhang der ethischen Probleme, die sich aus der Biotechnologie, der Geburtenkontrolle, der Abtreibung und der menschlichen Sexualität ergeben". Der Bericht verweist dann ausdrücklich auf den Abschnitt über "menschliche Sexualität" im Bericht des Ausschusses für Programmricht-linien der Vollversammlung in Harare, der anregte, dass eine ökumenische Beschäftigung mit den Fragen menschlicher Sexualität eine Verknüpfung herstellen sollte zwischen christlicher Anthropologie, biblischer Hermeneutik, Ethik und Kulturanalyse. In Aufnahme dieser Anregungen hat ein noch tastender Reflexionsprozess begonnen unter der Leitung einer kleinen Beratungsgruppe zu menschlicher Sexualität mit Dr. Erlinda Senturias, der früheren Direktorin der Christlichen Gesundheitskommission, als Moderatorin. Dabei wird vorausgesetzt, dass eine ökumenische Beschäftigung mit dem Thema der menschlichen Sexualität die Perspektiven und Kompetenzen unterschiedlicher Teams und Programme des ÖRK zusammenbringen muss unter Einschluss von Glauben und Kirchenverfassung mit dem Schwerpunkt auf theologischer Anthropologie; Gerechtigkeit, Frieden, Schöpfung mit der Dekade zur Überwindung von Gewalt; Mission und Evangelisation mit dem Schwerpunkt auf HIV/AIDS; Erziehung und ökumenische Ausbildung ebenso wie das Ökumenische Institut Bossey, das eine Reihe von Seminaren zur menschlichen Sexualität begonnen hat. Aus Mitarbeitern dieser unterschiedlichen Teams und Programmbereiche ist eine Stabsgruppe gebildet worden, die den Prozess koordiniert. Die Beratungsgruppe hat im November des letzten Jahres ihre erste Sitzung abgehalten und hat einen Arbeitsplan entwickelt, der sich in der ersten Phase konzentriert darauf, offizielle kirchliche Stellungnahmen zur Sexualität zu sammeln und zu analysieren unter Einschluss der dazugehörigen Studiendokumente. Der Plan sieht darüber hinaus die Vorbereitung eines kleinen Studienleitfadens vor ebenso wie die Durchsicht von theologischer, soziologischer, naturwissenschaftlicher und biomedizinischer Literatur über menschliche Sexualität, um so kommentierte Bibliographien erstellen zu können. Die Mitglieder der Beratungsgruppe ebenso wie die Teilnehmer an dem unmittelbar vorausgegangenen Bossey-Seminar waren sich bewusst, dass eine Diskussion zur menschlichen Sexualität grosse Sorgfalt und Einfühlungsvermögen voraussetzt. Der Prozess ist begleitet von der Hoffnung, dass der Ökumenische Rat einen sicheren ökumenischen Raum bieten kann, wo eine neue Qualität von ökumenischem Dialog entwickelt werden kann.

III. Kirchesein in konziliarer Gemeinschaft

26. Sie werden bemerkt haben, dass ich mich auf die vier breiten Themenfelder, die vom Programmausschuss benannt worden sind, als Rahmen für meinen Bericht bezogen habe. In diesem Sinne möchte ich den abschliessenden Teil meines Berichts um das Thema des Kircheseins gruppieren. Mein Anliegen hier ist, auf einige wichtige Entwicklungen unter den Mitgliedskirchen und den ökumenischen Partnerorganisationen hinzuweisen und über ihre Bedeutung für den ÖRK nachzudenken. Ich beziehe mich einerseits auf die Arbeit der Sonderkommission über orthodoxe Beteiligung am ÖRK, aber ebenso auf die Erklärung über "Grundprinzipien der Haltung der russisch-orthodoxen Kirche gegenüber anderen christlichen Konfessionen", die vom Bischofskonzil am 14. August 2000 angenommen wurde, und auf die Erklärung "Dominus Iesus", die von der Vatikanischen Kongregation für die Glaubenslehre am 5. September 2000 veröffentlicht wurde, sowie schliesslich auf Diskussionen mit und zwischen vielen unserer Partnerorganisationen auf der nationalen und regionalen Ebene über die ekklesiale Identität konziliarer Organisationen, insbesondere die Diskussionen bei der Generalversammlung des NCCCUSA im November des letzten Jahres. Ich habe den Eindruck, dass diese Entwicklungen dem Vorschlag des Programm-ausschusses Nachdruck verleihen, die Frage nach dem Kirchesein als ein übergreifendes Thema für die kommende Periode ins Auge zu fassen. Dieser Vorschlag ist seither aufgegriffen worden in Gestalt eines Studienprozesses über "Neue Wege des Kircheseins: Perspektiven der Frauen" wie auch in der Überarbeitung des Entwurfs einer Erklärung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung über "Das Wesen und die Bestimmung der Kirche".

27. Bei der Formulierung dieses Vorschlages bezog sich der Programmausschuss auf Überlegungen im Bericht des Ausschusses für Programmrichtlinien der Vollversammlung in Harare, der zu den übergreifenden Themen, um die herum die Arbeit des Ökumenischen Rates konzentriert werden sollte, auch die Entwicklung "eine(r) Ökumene des Herzens" sowie die Suche nach "integrative(r) Gemeinschaft" zählte . Sie werden sich daran erinnern, dass der Ausschuss für Programmricht-linien seinen Bericht abschloss mit einem Absatz über einen "Rahmen und eine Ausrichtung für die zukünftige Arbeit des Rates". Dort heisst es:

"Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Verständnis und einer gemeinsamen Vision muss der Ökumenische Rat der Kirchen die Gemeinschaft, die wir als Kirchen teilen, entscheidend vertiefen und auch erweitern. Unser Zeugnis und unser Dienst in der Welt, die heute immer dringender benötigt werden, hängen davon ab, dass wir unsere Bande der Verpflichtung und Rechenschaft geistlich stärken. Wir müssen, wie wir in Harare versprochen haben, 'gemeinsam bauen'.

Dafür muss die Gemeinschaft des ÖRK in der Zeit nach der Achten Vollversammlung und auf dem Weg in das 21. Jahrhundert jede Mitgliedskirche direkt dazu verpflichten, sich mit vier Fragen zu beschäftigen, die zentral für die Ziele des Ökumenischen Rates sind:

  • Wie setzen wir uns in einer stark pluralistischen Welt gemeinsam als Kirchen für Mission und Evangelisation ein?
  • Wie verstehen wir die Taufe als Grundlage für das Leben in Gemeinschaft, das zu teilen wir alle berufen sind?
  • Wie stellen wir gemeinsam unsere Ressourcen, unser Zeugnis und unser Handeln in den Dienst der Zukunft der Welt?
  • Wie gehen wir gemeinsam auf dem Weg zur sichtbaren Einheit voran?

    Bis wir wieder zu einer Vollversammlung zusammenkommen, muss sich jede einzelne Mitgliedskirche ökumenisch mit diesen vier Fragen auseinandersetzen. Unsre gemeinsamen Antworten werden unser gemeinsames Leben und unser Zeugnis in der Welt stärken. Es gibt keine wichtigere Aufgabe als diese. Die gesamte Arbeit des ÖRK sollte sich von diesen vier Anliegen leiten lassen."


  • Unser eigener Programmausschuss bezieht sich bei der Erläuterung des Schwerpunkts auf dem Kirchesein ausdrücklich auf diese vier Fragen und fügt hinzu: "Angesichts der unterschiedlichen Ekklesiologien innerhalb des ÖRK gehört die Suche nach dem Einssein der Kirche und das Verlangen nach einer deutlicher sichtbaren Einheit ins Zentrum des Lebens des Rates und muss von den Mitgliedskirchen in allen Weltregionen diskutiert werden." Der Programmausschuss verweist dann insbesondere auf die Suche nach integrativer Gemeinschaft und betont seine Überzeugung, dass der ÖRK 'sichere Räume für den Dialog' ermutigen und unterstützen sollte. Er unterstreicht vor allem die Herausforderung, welche von der Ausrichtung auf integrative Gemeinschaft für Kirchen ausgeht, die aufgrund rassischer und/oder ethnischer Identität gespalten sind, und weist auf die entsprechenden Studien der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung hin. Der Absatz endet mit dem nachdrücklichen Hinweis, dass fortwährende ökumenische Bildung notwendig ist.

    28. Kirchesein heisst in Beziehung sein. Dies gilt sowohl im Leben jeder lokalen Kirche wie auch zwischen ihnen. Um wirklich Kirche zu sein, brauchen die Kirchen einander. In Gemeinschaft zu stehen ist konstitutiv für das Kirchesein. Diese Überzeugung, welche die entscheidende Begründung für die Gemeinschaft von Kirchen in der ökumenischen Bewegung bietet, hat sich niedergeschlagen in der bekannten Erklärung der Vollversammlung in Neu-Delhi über die Einheit, die von der "völlig verpflichteten Gemeinschaft" spricht. Seither ist diese Überzeugung immer weiter entfaltet worden durch eine Ekklesiologie der Koinonia (communio) wie auch durch die Wiederentdeckung von Konziliarität als einer grundlegenden Dimension des Kircheseins. Eine ausgereifte Formulierung findet sich in der Erklärung der Vollversammlung in Canberra über "Die Einheit der Kirche als Koinonia: Gabe und Berufung", wo es heisst: "Das Ziel der Suche nach voller Gemeinschaft ist erreicht, wenn alle Kirchen in den anderen die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche in ihrer Fülle erkennen können. Diese volle Gemeinschaft wird auf der lokalen wie auf der universalen Ebene in konziliaren Formen des Lebens und Handelns zum Ausdruck kommen. In einer solchen Gemeinschaft sind die Kirchen in allen Bereichen ihres Lebens auf allen Ebenen miteinander verbunden im Bekennen des einen Glaubens und im Zusammenwirken in Gottesdienst und Zeugnis, Beratung und Handeln."

    29. Dies bezeichnet freilich zugleich sehr präzis den Punkt, an dem unsere Arbeit im ÖRK und in anderen konziliaren Strukturen der grössten Herausforderung begegnet. Auf der einen Seite haben wir die offiziellen Positionen der römisch-katholischen Kirche und der russisch-orthodoxen Kirche als der grössten unserer orthodoxen Mitgliedskirchen, die beide der Überzeugung sind, dass ihre eigene communio die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche ist, wie sie von unserem Herrn und Heiland selbst begründet wurde. Beide erklären sie, dass sie in Treue zur apostolischen Tradition nicht in der Lage sind, in anderen Kirchen die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche anzuerkennen, obwohl sie die Wiederherstellung der Einheit der Kirche als eine sich aus dem Evangelium ergebende Verpflichtung verstehen und obwohl sie bereit sind anzuerkennen, dass eine gewisse unvollkommene Gemeinschaft mit den getrennten kirchlichen Gemeinschaften besteht, die in den Worten des Bischofskonzils der russisch-orthodoxen Kirche "als ein Unterpfand dient für die Rückkehr zur Einheit in der Kirche, zu katholischer Fülle und Ganzheit". Auf der anderen Seite haben wir die grosse Mehrheit der Mitgliedskirchen, die als eine der Denominationen in der protestantischen Tradition verfasst sind. Sie haben keine grundlegende Schwierigkeit damit, einander als Kirchen anzuerkennnen, aber ihre Wertschätzung der denominationellen Autonomie und/oder konfessionellen Integrität steht in Spannung zur Grundüberzeugung von der Katholizität der Kirche. Sie haben sich zwar immer mehr dem Aufruf zu ökumenischer Gemeinschaft mit anderen Kirchen geöffnet, aber ihre Beteiligung an dieser Gemeinschaft hat keine grundlegenden Auswirkungen auf ihr "Kirchesein".

    30. Konziliare ökumenische Einrichtungen, d.h. Räte oder Konferenzen von Kirchen, sehen sich zwischen diese beiden Pole plaziert: auf der einen Seite die anspruchsvolle katholische und orthodoxe Ekklesiologie und andererseits die Situation eines Pluralismus von Denominationen unter den protestantischen Kirchen. Kirchenräte wie der ÖRK sind in ihren Strukturen und Arbeitsweisen vom Ethos der historischen protestantischen Denominationen geprägt. Dies hatte zur Folge, dass sie weitgehend funktionale Einrichtungen für Dienstleistungen und kirchliche Zusammenarbeit waren, die heute im Wettbewerb mit säkularen Nichtregierungsorganisationen bestehen müssen. Diese sind oft in der Lage, wirksamere und professionellere Dienstleistungen zu erbringen, und erhalten daher finanzielle Unterstützung auch von solchen Stellen, die traditionell die konziliaren ökumenischen Einrichtungen unterstützt haben. Darüber hinaus breiten sich evangelikale und pflingstliche Gemeinschaften immer weiter aus; sie passen sich leichter als die strukturierten Denominationen an die Wettbewerbsdynamik der Zivilgesellschaft an mit der Folge, dass die Mitglieder von Kirchenräten ihr Engagement reduzieren auf eine schlichte Koexistenz und ihre Energien konzentrieren auf die Stärkung der denominationellen Identität. Für viele protestantische Denominationen bedeutet die Mitgliedschaft in einem Kirchenrat, und d.h. die wenigstens nominelle Teilhabe an der Gemeinschaft untereinander, leider nicht, dass sie "in allen Dingen gemeinsam handeln ausser in Fällen, wo tiefe Unterschiede der Überzeugung sie zwingen, für sich allein zu handeln" (Lund-Prinzip). Diese zugegebenermassen kurzen und generalisierenden Beobachtungen liessen sich bestätigen durch Berichte aus zahllosen Gesprächen und Begegnungen mit den verantwortlichen Leitern nationaler Kirchenräte und regionaler ökumenischer Organisationen.

    31. Die andere Herausforderung für die konziliare Ökumene kommt von den orthodoxen und der römisch-katholischen Kirche. Ich werde mich in diesem Rahmen auf die Sonderkommission über orthodoxe Beteiligung und ihre kritische Analyse der Arbeitsweisen und des Ethos des Ökumenischen Rates konzentrieren. Der Zwischenbericht der Sonderkommission (Dok. GS 4) hat, wie Sie wissen, die kritische Analyse zu fünf Fragenkreisen zusammengefasst: "Fragen im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft; eine Überprüfung der Prozesse der Entscheidungsfindung; Gottesdienst/gemeinsames Gebet; ekklesiologische Fragen; und die Entwicklung ökumenischer Verfahrensweisen für die Behandlung sozialer und ethischer Fragen" (s. Paragraph 2.8). Da Ihnen der Zwischenbericht der Sonderkommission vorliegt, brauche ich hier die wesentlichen Gesichtspunkte nicht eigens zusammenzufassen. Die Überlegungen sind natürlich noch vorläufig und müssen weiter entfaltet werden. Hinter den Vorschlägen der Sonderkommission, vor allem in den ersten drei Fragenkreisen, steht eine grundlegende Herausforderung an das Ethos des protestantischen Denominationalismus und seines Einflusses auf die Strukturen und Arbeitsweisen des ÖRK.

    32. Es verdient daher besondere Beachtung, dass der Zwischenbericht der Sonderkommission in einem Abschnitt über "Ekklesiologie" ein Verständnis des Kircheseins in konziliarer Gemeinschaft formuliert. "Die Mitgliedschaft in einem Rat von Kirchen bedeutet, dass die Kirchen die Herausforderung annehmen, sich gegenseitig Rechenschaft über ihr Kirchesein zu geben und zum Ausdruck zu bringen, was mit sichtbarer Einheit der Kirche gemeint ist" (Paragraph 6.1). Diese Aussage wird dann auf die inneren Widersprüche der konziliaren Ökumene bezogen. Die Kommission richtet an die Kirchen, die zu den orthodoxen Familien gehören, die Frage: "Gibt es in der orthodoxen Ekklesiologie Raum für andere 'Kirchen'? Wie könnten dieser Raum und seine Grenzen beschrieben werden?" (Paragraph 6.2). Dies ist genau die ekklesiologische Herausforderung, welche die Existenz des ÖRK als einer Gemeinschaft von Kirchen den Mitglieds-kirchen zumutet: Hat die Gemeinschaft von Kirchen in diesem Rat irgendeine Bedeutung über den praktischen Wert der Förderung von Zusammenarbeit hinaus? In welchem Sinn können wir weiterhin von einer "Gemeinschaft von Kirchen" sprechen, solange die ekklesiale Qualität der voneinander getrennten Gemeinschaften unbestimmt ist? Auf der anderen Seite fordert der gleiche Paragraph die Kirchen innerhalb der Tradition der Reformation mit der gewichtigen Frage heraus: "Wie steht es bei Ihrer Kirche mit dem Verständnis, der Bewahrung und dem Ausdruck Ihrer Zugehörigkeit zur einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche?" Auch wenn diese Frage das denominationelle Selbstverständnis von protestantischen Kirchen nicht ausdrücklich erwähnt, so ist dies doch die eigentliche Stossrichtung der Frage: Wie lässt sich auf dem Hintergrund des protestantischen Denominationalismus ein wirkliches Verständnis der Katholizität der Kirche wieder gewinnen? Es ist nicht überraschend, dass die Sonderkommission in Übereinstimmung mit orthodoxen Überzeugungen dem Ökumenischen Rat oder irgendeinem anderen Rat von Kirchen als Institution keine ekklesiologische Bedeutung zuschreibt. Gleichzeitig ist jedoch klar, dass die Kirchen von einem Rat von Kirchen nicht erwarten können, das zu tun oder zu leisten, was nur die Kirchen in Gemeinschaft miteinander tun können. Kirchesein in konziliarer Gemeinschaft bedeutet, die wechselseitige Verpflichtung im Zentrum der ekklesialen Identität zu verankern. Diese Unterscheidung zwischen dem Ökumenischen Rat als einer Organisation und den Kirchen in Gemeinschaft miteinander ist wichtig und muss noch umfassender und gezielter entfaltet werden (vgl. Paragraph 8.2.).

    33. Der Zwischenbericht der Sonderkommission bestätigt daher aus einer anderen Perspektive die Schlussfolgerungen, die sich aus den Gesprächen mit regionalen ökumenischen Organisationen und nationalen Räten über eine kritische Neueinschätzung der konziliaren Ökumene am Anfang des 21. Jahrhunderts ergeben haben. Von beiden Seiten gibt es die nachdrückliche Forderung, die ekklesiale Identität von konziliaren Einrichtungen zu klären und zu stärken und so eine deutliche Abgrenzung vorzunehmen gegenüber dem breiten Spektrum von Nichtregierungsorganisationen und anderen Initiativen in der Zivilgesellschaft. Die gleichen Erfahrungen weisen übereinstimmend auf die lokale Ebene hin als entscheidendem Kontext für das Kirchesein.

    34. Viele der konziliaren ökumenischen Partnerorganisationen des ÖRK sehen sich in schwierige Auseinandersetzungen darüber verwickelt, ob sie der Vertiefung der bestehenden Gemeinschafts-bindungen oder der Ausweitung ihres Einzugsgebiets den Vorrang geben sollen, um so Gemeinschaften, die bislang ausserhalb der organisierten ökumenischen Bewegung standen, einzubeziehen. Auf der einen Seite steht die Überzeugung, dass das Bewusstsein wechselseitiger Verpflichtung und Rechenschaftspflichtigkeit in ökumenischer Gemeinschaft gestärkt werden muss und dass die Mitglieder konziliarer Einrichtungen einander als Kirchen anerkennen müssen. Dem steht gegenüber die Überzeugung, dass konziliare Gemeinschaft nicht exklusiv werden darf und Raum bieten muss für die Beteiligung all derer, die bereit sind, sich an der Suche nach Einheit zu beteiligen. Die Sonderkommission geht nicht unmittelbar auf diese Spannung ein; wenn man jedoch dem Schlussabschnitt des Zwischenberichts über "Die zukünftige Gestalt des Rates" folgt, dann scheint klar zu sein, dass die Kommission die Vertiefung und Ausweitung der Gemeinschaft nicht als einander ausschliessende Alternativen ansehen würde. Vielmehr denkt die Kommission an einen Rat, "der die Kirchen in einem ökumenischen Raum zusammenführt, in dem Vertrauen aufgebaut werden kann, in dem die Kirchen ihr Verständnis von der Welt, von ihren eigenen sozialen Verhaltensweisen und von ihren liturgischen und lehrmässigen Traditionen prüfen und entwickeln können und einander gleichzeitig als Gegenüber sehen und ihre Begegnung miteinander vertiefen" (Paragraph 8.4.).

    35. Die Metapher eines ökumenischen Raumes beginnt sich als Kristallisationspunkt für diese Vision zu erweisen. Es sollte ein sicherer Raum sein, der offene Diskussion ermöglicht, wo alle gehört werden und wo die Suche nach Einverständnis stattfinden kann ohne den Druck, eine Auseinandersetzung oder eine Abstimmung gewinnen zu müssen. Es sollte ein heiliger oder geistlicher Raum sein, der durch gemeinsames Gebet und Gottesdienst immer neu begründet und zugleich geschützt wird und der erkennen lässt, dass Gemeinschaft gründet in der Gabe der communio, die von Gott in Christus angeboten und uns durch einen Prozess von Tradition und fortlaufender Rezeption übermittelt wird. Und schliesslich sollte es ein dauerhafter Raum sein mit Leitungsstrukturen, die offen und flexibel sind und zugleich die Integrität des ökumenischen Raumes bewahren; dazu gehört auch eine Praxis von Erziehung und Ausbildung, die fortwährend neue Generationen für Leitungsaufgaben heranbildet. Wenn es der Sonderkommission und mit ihrer Hilfe dem Zentralausschuss und letztendlich den Mitgliedskirchen gelingt, diese Vision umfassender zu entfalten, dann werden sie nicht nur dem Leben des Ökumenischen Rates der Kirchen neue Kraft geben, sondern neue Inspiration für das Kirchesein in konziliarer Gemeinschaft vermitteln.


    Zurück zur Seite "ÖRK Zentralausschuss 2001"