Ausgabe Nr. 3
November 2006

Liebe Brüder und Schwestern in Christus,

„Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus“ (2. Thess 1,2).

Die Adventszeit steht unmittelbar bevor. Der Name Advent kommt vom Lateinischen advenire (herankommen) und adventus (Ankunft) und bezieht sich auf das Kommen Christi in diese Welt. In dieser Zeit des Jahres erwartet die Kirche, dass die Gläubigen sich auf die Feier des Weihnachtsfestes vorbereiten, der Geburt und Ankunft Jesu Christi. Und es ist nur recht, dass das Geheimnis dieses großen Tages damit geehrt wird, dass wir uns im Gebet und in Bußfertigkeit darauf vorbereiten.

Im Mittelpunkt des Advents steht keinesfalls nur das erste Kommen Christi. Ein gleichberechtigtes, wenn nicht sogar wichtigeres Thema in der Adventliturgie ist das zweite Kommen Christi, wenn er kommt, um die Welt zu richten.

Wir freuen uns sehr, dass wir in dieser Ausgabe unseres Ökumenischen Briefes über Evangelisation einen Artikel mit dem Titel „Kreative Wege, Menschen zu erreichen“ veröffentlichen können, den einer meiner Vorgänger im Ökumenischen Rat der Kirchen geschrieben hat, Pfr. Dr. Gerhard Linn aus Deutschland. Er berichtet davon, wie die gute Nachricht vom Evangelium Jesu Christi auf neuen Wegen ökumenisch zum Ausdruck gebracht werden kann, indem der Akzent auf die aktive Einbeziehung der örtlichen Gemeinschaft gelegt wird. „ Mittun können“, so Linn, „ist meines Erachtens ein Schlüsselwort für die Kommunikation des Evangeliums in unserer Situation.“ Wir danken Dr. Linn dafür, dass er seine interessanten und hilfreichen Reflexionen mit uns teilt.

Dieser Ökumenische Brief wird der letzte sein, den ich herausgebe, da ich in Zukunft neue Aufgaben im Ökumenischen Rat übernehme. Ich werde im Bereich Spiritualität arbeiten und für die Beziehungen zu Lateinamerika und die Karibik zuständig sein. Daher möchte ich an dieser Stelle Gott dafür danken, dass er mich diese herausfordernde Arbeit im Bereich der Evangelisation hat tun lassen, und mich bei jedem und jeder von Ihnen für Ihre Unterstützung, Gebete und Ermutigung zu bedanken!

Wir beten darum, dass diese Adventszeit eine Gelegenheit sein möge, unsere Treue zum Herrn zu erneuern und die stets aktuelle und hoffnungsvolle Botschaft vom Gottesreich von neuem zu verkündigen.

Mit brüderlichen Grüßen,

Carlos Emilio Ham (cah@wcc-coe.org)
ÖRK-Programmreferent für Evangelisation


KREATIVE WEGE MENSCHEN ZU ERREICHEN

Dieser Brief kommt aus Ostberlin, d.h. aus dem Teil Deutschlands, der 40 Jahre lang unter kommunistischer Herrschaft gestanden hat. Eine Nachwirkung dieser Periode – auch 16 Jahre nach dem Zusammenbruch des Systems – ist eine fast völlige Entchristianisierung der Gesellschaft in den sogenannten „neuen Bundesländern“, die sich u.a. darin äussert, dass ca. 80 % der Bevölkerung keiner Kirche, keiner Religion angehören. Es gibt eine krasse Unkenntnis der biblischen Traditionen bis dahin, dass die Frage: Wer war bzw. ist Jesus? die meisten in Verlegenheit bringt.

Diese Entwicklung zeigte sich schon lange. Im Jahre 1970 war mein Sohn Schüler im ersten Schuljahr. Die Klassenlehrerin, die zugleich an dieser Schule Parteisekretärin der herrschenden „Sozialistischen Einheitspartei“ war, besprach mit den Kindern den Lebenslaiuf Lenins, dessen 100. Geburtstag zu feiern war. Dabei kam sie auf den Bruder Lenins zu sprechen, der als Anarchist an einem Attentat auf den Zaren beteiligt war, verhaftet, zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Ein Kind fragte: Was ist das „hingerichtet“? Ehe die Lehrerin zum Antworten kam, stand mein kleiner Sohn auf und sagte: Ich weiss, was das ist. Das ist wie bei Jesus. Der ist auch hingerichtet worden, der ist gekreuzigt worden. Ein weiteres Kind stand auf und fragte: Wer ist denn nun Jesus? Ist der auch ein Bruder von Lenin? Trotz ihrer kommunistisch-atheistischen Überzeugung war die Lehrerin schockiert, dass die Kinder den Namen Jesus alle nie gehört hatten, und erzählte uns von diesem Vorfall.

Während wir uns in der weltweiten Ökumene über Nachrichten vom rapiden Wachstum der christlichen Kirchen in China und in Afrika südlich der Sahara freuen, wir über das Wachstum der Pfingstkirchen in Lateinamerika staunen und in manchen Ländern Europas von einer Renaissance der Religion geredet wird, stoßen wir bei uns bei der Mehrzahl der Menschen auf eine Art Immunität gegenüber allem, was nach Religion schmeckt, ein völliges Fehlen einer Antenne für Transzendenz. In dieser Situation erreichen herkömmliche Evangelisationen, die von biblischen Leitbegriffen wie Sünde, Erlösung und Vergebung bestimmt sind, die Menschen nicht, für die diese Begriffe allenfalls eine sehr abgeflachte säkularisierte Bedeutung haben.

Wie kann das Evangelium trotzdem an Menschen in unserer Umgebung so herangetragen werden, dass ein Minimum an Nachdenklichkeit angestoßen wird?

Wir wohnen seit 40 Jahren an der östlichen Stadtgrenze von Berlin in einer relativ einsam gelegenen Häuserzeile von neun Häusern am Waldrand. Diese Lage bringt es mit sich, dass man alle Nachbarn kennt. Von den zehn Familien, die in diesen Häusern wohnen, sind wir die einzigen, die zur Kirche gehören. Das war vor 40 Jahren so und ist auch heute – trotz mehrerer Todesfälle, Wegzüge und Neuzuzüge – noch so. Im Herbst haben wir einmal alle Nachbarn auf unser Grundstück zu einem „Pot-luck“ Treffen eingeladen. Alle – insgesamt 30 Personen – folgten unserer Einladung. Eine Familie stellte ihr großes Zeltdach auf, das uns gegen einen leichten Regen schützte, eine andere Klapptische und Klappbänke. Wir überlegten, wie wir sie begrüßen wollten. Eine Einladung zum Tischgebet kam nicht in Frage. Meine Frau hatte schließlich eine gute Idee. Sie erzählte den Gästen, dass wir als Christen regelmässig das „Vater unser“ beten, zu dem die Bitte gehört: Unser tägliches Brot gib uns` heute! und dass Martin Luther in seiner Erklärung dieser Bitte „getreue Nachbarn“ zum `täglichen Brot` zählt. Wir nun als Gstgeber, so sagte sie weiter, freuen uns, Sie alle als getreue Nachbarn zu haben, und das ist für uns eine Gabe Gottes, für die wir dankbar sind.

Ein bescheidener Versuch.

Bei diesem Treffen erzählte eine Nachbarin, sie sei durch Vermittlung einer Freundin in einem anderen Stadtteil zu einem Gospel-Chor gestoßen, in dem sie seitdem mit Begeisterung mitsingt. Und zur Zeit übten sie für ein weihnachtliches Konzert, zu dem sie alle einlud. So kam es, dass wir etwa 10 Wochen später mit mehreren anderen Nachbarn zu diesem Konzert fuhren, das in der kath. Kirche von Berlin-Karlshorst stattfand. Durch die Freude am Mittun in diesem Chor war diese unsere Nachbarin in Berührung mit der Botschaft von Jesus, dem Heiland der Menschen, gekommen.

Mittun können ist meines Erachtens ein Schlüsselwort für die Kommunikation des Evangeliums in unserer Situation. Ich erinnerte mich plötzlich daran, dass in dem von mir 1999 herausgegebenen Sammelband mit Beispielen missionarischer Initiativen von Gemeinden auch ein Beitrag eines Gemeindepfarrers über einen Gospelchor in Eberswalde, einer Kreisstadt nördlich von Berlin, steht, aus dem ich hier zitieren möchte:

Zu den traditionellen Werten der evangelischen Kirche gehörte immer die Pflege der Kirchenmusik. Aus gutem Grund, denn das gemeinsame geistliche Singen verbindet uns mit den Inhalten der Bibel und der theologischen Erkenntnisse und es verbindet uns in den Gemeinden untereinander. Es trägt das Wort ins Herz. . . .

Doch die Kirche in Deutschland verliert immer mehr den Anschluss an die breitenwirksamen Stilrichtungen unserer Tage, tut sie als Unterhaltungsmusik ab und lässt es zu, dass unter Kirchenmusikern diejenigen etwas belächelt oder auch beschimpft werden, die an dieser Stelle versuchen, Verbindungen zu knüpfen. . . .

Als uns diese Misere erneut deutlich wurde, begannen wir nach Musik zu suchen, die gleichzeitig geistlich und populär ist.Wir, also zunächst meine Frau und ich, entdeckten dabei, wie auch viele vor und neben uns, die Gospelmusik der afroamerikanischen Gemeinden. Bei genauerem Hinsehen tat sich eine Welt des geistlichen Singens auf, wie sie in Europa in diesem Jahrhundert nicht annähernd zu finden ist. Geist und Körper sind ganzheitlich in einer Intensität beteiligt, die so in unserer Tradition nicht vorkommt. Können das nur die schwarzen Schwestern und Brüder aus Amerika? Der Film „Sister act“ brachte den letzten Anstoß. Wir wollten es ausprobieren, schlugen alle Warnungen in den Wind und setzten einen Aufruf in die Lokalzeitung:“Wer will mit uns Gospel singen?“ Gleichzeitig baten wir die Kirchenmusiker um Hilfe. Nachdem wir dort niemanden für die Leitung eines Gospelchores gewinnen konnten, machte ich mich selbst auf den Weg in die Gospeliteratur.

Zum ersten Mal geschah es mir, dass eine Zeitungsmeldung Menschen in die Kirchengemeinde brachte, die hier mit uns geistliche Texte singen wollten. Der anfangs unternommene Versuch, mithilfe der deutschen Sprache Barrieren aus dem Weg zu räumen, scheiterte kläglich am Protest der Sangeswilligen, so dass ab der zweiten Probe nur noch Englisch gesungen wurde. Es lohnt sich schon darüber nachzudenken, warum in Deutschland die englische Sprache zum geistlichen Singen gewählt wird. Wir allerdings stellten uns auch dieser Aufgabe, hörten uns hinein, ließen uns im Englischen später ständig von Chormitgliedern korrigieren und legten los.

Es kamen viel mehr Menschen auf den Zeitungsaufruf, als wir in der Kleinstadt Eberswalde erwartet hätten, und viele von ihnen gingen auch gleich wieder. Es blieb ein kleiner Kreis von Sängerinnenen und Sängern, die teilweise nie zuvor eine Kirche betreten oder in einem Chor gesungen haben. Andere hatten ihre Kirchenmitgliedschaft schon fast vergessen. Immer wieder kamen auch Neugierige dazu, gingen oder blieben, aber der Erberswalder Gospelchor war geboren. In ihm befanden sich, nicht wie wir erst vermuteten, Jugendliche, sondern die oft noch schwerer erreichbare Gruppe der 20-50 Jährigen prägte den Chor Vereinzelt aber finden inzwischen auch Jugendliche hier eine Heimat. Über die 2 ½ Jahre seines Bestehens wuchs der Chor auf eine Stärke von ca. 25 Sängerinnen und Sängern an und bringt uns auch heute noch ständig in Kontakt mit Menschen, die wir in der Gemeindearbeit bisher nie gesehen haben. Die Gospelmusik entwickelt dabei eine große integrative Kraft, so singen hier bei uns Langzeitarbeitslose neben Betriebsleitern, Menschen, die keiner Kirche angehören wollen, auch nicht glauben, neben entschiedenen Christen, in ökumenischer Breite, bis hin zu charismatisch geprägten Christen.

Im Mittelpunkt steht nicht das hehre Ziel, einen Qualitätschor zu gründen, der eine große Kunst einwandfrei interpretiert, sondern im Mittelpunkt steht die Freude am geistlichen Singen, am Rhythmus, an der Gemeinschaft in der Gruppe und an den Auftritten in der Gemeinde. So sind auch Chorfeste und Probentage sowie die Pausen in der Probe wesentliche Mittel, untereinander in Kontakt und zur Gemeinschaft zu kommen. Am schwersten fiel uns allen dabei, die intellektuelle distanzierte Art des Singens abzulegen, die bei uns in Deutschland üblich ist, und nicht nur Noten und Texte, sondern auch die Bewegung der Gospel aufzunehmen, Improvisation und Begeisterung zuzulassen, die dann beim Auftritt auch andere mitreissen kann. Aber gerade dies ist auch ein besonderer Ansporn für viele, Gospel zu singen, weil dort der Gesang in die Bewegung hinüberfließt. . . . .

Gerade in den Gottesdiensten bringt die Bewegung ein ganz neues, viel freieres Gefühl in die geistliche Besinnung hinein. Die Christvespern mit Krippenspiel und Gospelchor gelten schon als Geheimtip, und manch einer nimmt dafür gern unseren nicht sehr reizvollen Kirchraum in Kauf, wenn er dafür eine musikalisch auf diese Art belebte Christvesper mitfeiern kann. . . Auch die übrige Gemeindearbeit profitiert inzwischen sichtbar vom Gospelchor. Mehrere Taufen und Kircheneintritte geschahen im Zusammenhang mit der Chorarbeit . . . .

Ein Wort noch zu den Texten der Gospelmusik. Ist die englische Sprache noch eine so große Barriere? Für viele Menschenn natürlich. Deshalb haben wir uns angewöhnt, Textblätter mit deutschen Übersetzungen unter den Zuhörern zu verteilen. Wir wollen keine Unklarheiten über die Bedeutung.. . .

(aus Hans-Peter Giering:“Gospel Chor – die Botschaft trifft sich mit den Menschen“, in Gerhard Linn „Schritte der Hoffnung“, Neukirchener Verlag 1999,S.216 ff)

Der Verfasser dieses Berichtes, auch heute noch Pfarrer in Eberswalde, erzählte mir dieser Tage, dass der Gospelchor in Eberswalde weiter lebt und inzwischen auf die doppelte Stärke an Mitsingenden angewaschsen ist. Zur Zeit bekommt die Probenarbeit Auftrieb durch eine Einladung aus der United Church of Christ / USA, Partnerkirche unserer Landeskirche, an diesen Gospelchor, zu einem Konzertbesuch in mehreren Gemeinden im Staate Wisconsin nach Amerika zu kommen!

Mittun ist auch das bestimmende Stichwort für eine andere Initiative, von der ich erzählen möchte: In unserem Statteil Berlin-Friedrichshagen gibt es neben der großen (landeskirchlichen) ev. Kirchengemeinde, einer kleinen kath. Gemeinde eine recht aktive baptistische Gemeinde. Wie jedes Jahr wollte diese Gemeinde auch vergangenes Jahr für das Weihnachstfest ein Krippenspiel einüben. Doch die Gemeindeleitung stellte fest: Wir haben zu wenige Kinder in der Gemeinde, die für das Krippenspiel in Frage kommen. Diejenigen, die in den Vorjahren mitgespielt haben, sind inzwischen Jungendliche und kommen sich zu alt vor für ein solches Spiel. Was tun?

Auch hier wurde mittels Anzeigen in einer Tageszeitung um Mitspieler geworben. Es wurde ein „Casting für ein Weihnachtsspiel“ ausgeschrieben mit der Angabe, wann und wo sich Kinder (möglichst in Begleitung ihrer Eltern) zum „Casting“ einfinden könnten, um sich um eine Rolle in dem geplanten Spiel zu bewerben. Und sie kamen in erstaunlicher Zahl, zum Teil aus Nachbarorten. Für die Verantwortlichen stand von vornherein fest: Genommen werden alle. Schließlich kann die Zahl von Hirten und Engeln flexibel festgelegt werden. Aber dem Vorgang des „Casting“ wurde ein professioneller Anstrich gegeben. Für jedes Kind wurde ein Bewerbungsbogen mit Foto angelegt.

Und dann kam der erste Probentag. Dabei stellte sich heraus (was man eigentlich ahnen konnte), dass die wenigsten der Kinder eine Ahnung von der Weihnachtsgeschichte hatten. Allein die Möglichkeit des Mitspielens war ausschlaggebend gewesen für ihre „Bewerbung“. So wurde den Kindern erst einmal die Weihnachstgeschichte erzählt und so die Person Jesu vorgestellt und nahe gebracht, dessen Geburt in der Krippe zu Bethlehem zu Weihnachten gefeiert wird. Dann erst konnten die Proben beginnen.

Zu der Aufführung des so einstudierten Krippenspiels im Gottesdienst am „Heiligen Abend“ kamen dann alle Eltern und andere Verwandte der spielenden Kinder – bis hin zu einer Oma, die bis zuletzt über die „kirchliche Vereinnahmung“ ihrer Enkel geschimpft hatte.

Der Weihnachtsgottesdienst mit Krippenspiel wurde auf Video aufgenommen. Zwei Wochen später wurden die Kinder, die am Krippenspiel beteiligt waren, mit ihren Familien eingeladen, sich miteinander dieses Video anzusehen und mit den Mitarbeitern der Gemeinde über das Erlebte zu sprechen.

Eine andere von manchen Gemeinden gern genutzte Möglichkeit, auf Menschen ausserhalb der Gemeindegrenzen zuzugehen und zum Mittun einzuladen, ist die Durchführung eines Straßenfestes, die Beteiligung an Stadtteilfesten u.a. mit einem Gottesdienst auf freiem Platz (z.B. auf dem Markt) wie auch die regelmäßige Feier des Martinstages. In dem Teil Deutschlands, in dem alle Wirkungsorte des Reformators Martin Luther liegen, erfreut sich der Namenstag des von der kath. Kirche verehrten Heiligen, der seinen berühmten Mantel mit einem Bettler teilte, auch bei Evangelischen großer Beliebtheit. Seine Feier ist bei ökumenisch offenen Christen eine willkommene Gelegenheit für ev. und kath. Gemeinden, an ihrem Ort gemeinsam in der Öffentlichkeit aufzutreten.

Dazu als Beispiel ein Zitat aus einem Bericht aus einer mitteldeutschen Kleinstadt:

Im September 1993, kurz nach meiner Einführung in mein Amt als evangelischer Pfarrer, kam von der katholischen Gemeinde der Anstoß, doch den Martinstag gemeinsam zu feiern. Ich hatte noch nie den Martinstag gefeiert. In einer Vorbereitungsgruppe legten wir die Grundlagen unseres Martinsfestes, die sich bis heute nicht wesentlich geändert haben. 1993 war der Ablauf Folgender:
- 16.30 Uhr Beginn in der evangelischen Kirche mit Singen von Martinsliedern mit Guitarren
und Martinsspiel und Erzählen der Legende
- 17.00 Uhr Laternenumzug mit Pferd und Martinsreiter durch Sandau zum katholischen
Altenheim
- 17.15 Uhr gemeinsames Singen am Lagerfeuer
- 17.30 Uhr Essen von Martinshörnchen (alle selbst gebacken), es gibt auch Tee
Grundprinzip: ein Martinshörnchen muss immer mit einem anderen geteilt
werden; offenes Ende.

Im Jahr 1994 verlegten wir den Beginn ins katholische Altenheim, zogen dann in die dunkle evangelische Kirche (dort nur ein oder zwei Lieder, eine Zeit der Stille und das gemeinsame „Vaterunser“), von dort zum Lagerfeuer im Pfarrgarten und dann ins Pfarrhaus. . . . .Unser größtes Problem waren und sind die vielen Menschen. In den letzten beiden Jahren waren es jeweils 170 Kinder und Erwachsene, die aus bis zu 30 km Entfernung kamen . . .weil die katholische Kapelle inzwischen zu klein ist, haben wir das Martinsspiel ins Freie vor die Tür der evangelischen Kirche gelegt. . . . Ein besonderes Gewicht hat in den letzten Jahren das Singen am Lagerfeuer erhalten. Hier werden vor allem Bewegungslieder gesungen. . . . . . Wir sind im Zusammenhang des Martinsfestes immer wieder erstaunt, wie viele Mütter sich mit ihren Kindern an diesem Fest beteiligen, obwohl sie weder zur katholischen noch zur evangelischen Gemeinde gehören. . . . In der Vorbereitungsphase ist es in jedem Jahr wieder neu wichtig, die Rezepte für das Backen der Martinshörnchen zu verteilen und Mütter für das Backen zu gewinnen. . .
(aus Andreas Breit „Martinsfest in Sandau“ in „Schritte der Hoffnung“ S. 193 f)

In unserer ev. Kirchengemeinde in Berlin-Friedrichshagen gibt es seit 2 ½ Jahren eine „Arbeitsgruppe Gottesdienst“. Diese Gruppe hat sich zunächst darum bemüht, in bestimmten Abständen Gruppen von Gemeindegliedern dafür zu gewinnen, einmal gemeinschaftlich einen Sonntagsgottesdienst vorzubereiten und durchzuführen. Die betreffenden Gruppen hatten jeweils die Freiheit, den Gottesdienst zu einem für sie wichtigen Thema zu gestalten und dabei von der Ordnung des Kirchenjahres abzuweichen.

Die Grundidee für solch eine Gottesdienstgestaltung geht auf einen wegwesenden „Monatsbrief für Evangelisation“ aus Genf aus dem Jahre 1967 zurück, verfasst von Walter Hollenweger unter dem Titel „Der Liturg als Regisseur“. Mit dieser Weise der Gottesdienst-Gestaltung wollen wir immer wieder erlebbar machen, dass unsere Gottesdienste Gemeinschaftssache sind und dass in ihnen die Tagesordnung des Alltags so dem Dialog mit der biblischen Botschaft ausgesetzt werden kann, dass aus dieser „Begegnung von Situation und biblischer Botschaft“ Orientierungshilfe für die Praxis unseres Glaubens ewächst.

Doch damit waren wir noch immer im vertrauten Kreis der Gemeinde. Wie könnten wir über diesen Kreis hinaus Menschen an unserem Ort das Evangelium nahe bringen und deutlich machen, dass es auch für ihr Leben relevant ist so wahr das „Evangelium für alle Lebensbereiche“ (vgl. die zweite „ökumenische Überzeugung“ in der Ökumenischen Erklärung über Mission und Evangelisation des ÖRK aus dem Jahre 1982) auszulegen ist.

Eines Tages schlug ein Mitglied der Gruppe vor, auf die Männer der Freiwilligen Feuerwehr zuzugehen und sie zu fragen, ob sie vielleicht Lust hätten, mit uns einen Gottesdienst zu feiern, der ihren so wichtigen Dienst und die Fürbitte dafür im Mittelpunkt haben würde.

Nach einem Sondierungsbesuch dessen, der die Idee hatte, bei dem Einsatzleiter der hiesigen Freiwilligen Feuerwehr wurde ein Termin vereinbart, zu dem eine vierköpfige Abordnung unserer Gruppe eine dreiköpfige Leitungsgruppe der Feuerwehr zu einem längeren Gespräch besuchte. Dabei ließen wir uns von ihren Einsätzen erzählen, davon, wie sie Tag und Nacht bereit sein mussten zu allen möglichen Notfällen auszurücken, und das neben ihrer beruflichen Arbeit. Das Löschen von Feuer ist praktisch die Ausnahme. Durch die ständige Bereitschaft ist auch die Freizeit mit der Familie oft gestört, und das alles freiwillig, ohne Bezahlung! Uns wurde plötzlich klar, dass das den wenigsten Bewohnern unseres Stadtteils geläufig ist, weil es daneben auf größerer Ebene die Berufsfeuerwehr gibt.

Als wir dann mit ihnen darüber redeten, wie wir in einem Gottesdienst ihnen Gelegenheit geben wollten, über ihre freiwillige Arbeit so zu berichten, dass wir konkret für sie beten könnten, machten sie uns erst einmal darauf aufmerksam: Von uns 25 Männern gehört keiner der Kirche an! Wenn Sie das nicht schreckt, können wir gern über einen „Gottesdienst mit der und für die Feuerwehr“ reden. Später stellte sich allerdings heraus, dass von den Jüngeren doch einer der ev. Kirche angehört und kurz zuvor sein Kind hatte taufen lassen. Er wurde dann bei der Vorbereitung des Gottesdienstes zum wichtigen Brückenglied, eine Rolle, die er sich wohl nicht hatte träumen lassen.

Die weitere Vorbereitung zog sich über einen längeren Zeitraum hin und brachte es mit sich, dass ein paar Feuerwehrleute bei dieser gemeinsamen Vorbereitung zum ersten Mal in ihrem Leben die Kirche betraten und sich von uns erklären liessen.

Zu dem Gottesdienst selbst kam die große Mehrheit der Feuerwehrleute in Uniform, begleitet von ihren Familien. Die Kirche wurde voll! Einer von ihnen gab einen knappen Bericht, auf den unsere Pfarrerin mit einer Predigt über Jeremiia 29, 7: „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn“antwortete. Für die Fürbitten hatten die Feuerwehrleute unter sich bei einer ihrer Versammlungen Anliegen zusammengetragen, zu denen wir – abschnittsweise – Gebetssätze formuliert haben, die die Gemeinde sich zu eigen machen konnte. So wurde unsererseits signalisiert: Wir nötigen euch nicht zum Mitbeten, aber wir beten konkret für euch!

Nach dem Gottesdienst gab es beim sonntäglichen Kirchenkaffee viele engagierte Nachgespräche. Das Echo auf diesen Gottesdienst hat uns dazu ermutigt, in ähnlichetr Richtung weiterzumachen. Als nächstes Projekt haben wir uns einen Gottesdienst mit und für Lehrer vorgenommen, in dem die Rolle der Schule aus der Sicht der Lehrer zum Thema gemacht werden soll. Ein erstes Sondierungsgespräch mit drei Lehrerinnen hat stattgefunden, weitere werden folgen.

Ich breche hier ab in der Hoffnung, den Leserinnen und Lesern in anderen Teilen der Welt eine kleine Vorstellung davon vermittelt zu haben, was es in unseren Breiten heissen kann, das Evangelium mitzuteilen. Bitte beten Sie für uns und alle, denen wir das Evangelium schuldig sind.

Berlin, am 26. Mai 2006 Gerhard Linn