Ausgabe Nr. 1 -Juli 2003

Liebe Freunde!

Friede sei mit euch! Ich grüße Sie aus Genf!

In meinem Berufsleben und im Leben des Ökumenischen Rates der Kirchen hat sich seit dem Erscheinen des Ökumenischen Briefes über Evangelisation im vorigen Jahr so viel ereignet, dass es jetzt an der Zeit ist, mich wieder bei Ihnen zu melden.

Im Dezember vorigen Jahres wurde der ÖRK – teils aus finanziellen Zwängen heraus – neu organisiert; dabei wurden die Teams "Bildung und ökumenische Ausbildung" sowie "Mission und Evangelisation" zu einem Team mit dem Namen "Mission und ökumenische Ausbildung" zusammengeführt. Ich wurde zum Team-Koordinator des neuen Teams ernannt – eine Aufgabe, die mich mit Freude erfüllt. Ich möchte jedoch auch meine Arbeit als Programmreferent für Evangelisation weiterführen.

In Genf ist zurzeit sehr viel zu tun. Der ÖRK-Zentralausschuss wird im August tagen und einen neuen Generalsekretär wählen. Daneben sind auch die Vorbereitungen für die nächste Weltmissionskonferenz in Athen, Griechenland, 2005, angelaufen.

Ich hoffe, dass Sie dieser Brief bei guter Gesundheit erreicht; denken Sie bitte daran, dass Beiträge für künftige Briefe jederzeit willkommen sind. Ich hoffe auch, dass dieser Artikel über die Evangelisation in China Ihr Interesse findet.

In Christus

Pfr. Dr. Carlos Emilio Ham
Team-Koordinator
Team für Mission und ökumenische Ausbildung


Ausgabe Nr. 1 - Juli 2003

Die Frohe Botschaft ökumenisch verkündigen: Evangelisation in China
Gedanken zum Besuch eines ÖRK-Teams in China vom 19. – 30. März 2003

Der Besuch
Seit der Chinesische Christenrat (CCC) auf der VII. Vollversammlung 1991 Mitglied des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) geworden ist, gab es mehrere Besuche und Tagungen in China, an denen auch der CCC beteiligt war. Zumeist ging es dabei um Fragen der Religionsfreiheit, der Menschenrechte sowie um politische Probleme in Nordostasien, beispielsweise um die Taiwan-Frage.

Im Jahre 1994 reiste der Generalsekretär nach China, und 1995 besuchte eine Delegation des CCC den ÖRK; das Team für internationale Angelegenheiten organisierte einen längeren ökumenischen Teambesuch im Mai 1996. In den Jahren 2000/2001 fanden unter Federführung des Teams für internationale Angelegenheiten drei Tagungen über Frieden und Sicherheit in Nordostasien in Tokio, Kioto und Hongkong statt.

Vor kurzem reiste eine ÖRK-Delegation nach China, um zu sondieren, auf welchen Gebieten gemeinsame Arbeit mit dem CCC an neuen Programmen möglich ist und wie die Mitwirkung des CCC am Leben und an der Arbeit des ÖRK verstärkt werden kann. Außerdem wollte der ÖRK die neuen Amtsträgerinnen und Amtsträger des CCC kennen lernen, die bei der 7. Christlichen Konferenz Chinas vom 22. – 27. Mai 2001 gewählt worden waren.

Nach weiteren Gesprächen mit Matthews George vom Asienreferat des ÖRK und Pfr. Gao Ying, dem Mitglied des CCC im Zentralausschuss, setzte sich unser Kollege Hubert van Beek vom ÖRK-Büro für kirchliche und ökumenische Beziehungen mit den Teams für Glauben und Kirchenverfassung sowie für Mission und ökumenische Ausbildung in Verbindung, die den vorgeschlagenen Besuch befürworteten. Das Gesamtziel wurde wie folgt definiert:

Stärkung der Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen dem ÖRK und dem Chinesischen Christenrat, um dem ÖRK die Möglichkeit zu geben, vom CCC lernen und besser auf seine Bedürfnisse und Erwartungen eingehen zu können, und den CCC stärker am Leben und an der Arbeit des ÖRK zu beteiligen.

Als spezifische Ziele wurden herausgestellt:

Konzentration auf Fragen der Ekklesiologie und des Gottesdienstes (in einer post-konfessionellen Kirche), Mission und Evangelisation (unter Berücksichtigung von Fragen des Proselytismus), ökumenische Beziehungen, ökumenische Bildungsarbeit und theologische Ausbildung.

Die Leitung des CCC begrüßte den vorgeschlagenen Besuch und regte an, ihn vor dem Besuch seiner Delegation beim ÖRK Ende April 2003 stattfinden zu lassen. Schließlich wurde die Zeit vom 19. – 30. März 2003 als Termin vereinbart, und der CCC legte einen Zeitplan und ein Programm vor. Dem Team gehörten an: Simon Oxley (Programm für Bildung und ökumenische Ausbildung), Kersten Storch (Glauben und Kirchenverfassung), Hubert van Beek (Kirchliche und ökumenische Beziehungen) und Carlos Ham (Programm für Mission und Evangelisation).

Das Team wurde von Pfr. Bao Jiayuan, dem Stellvertretenden Generalsekretär des CCC und Direktor des Nanking-Büros, begleitet, der zugleich Reiseführer, Dolmetscher, unerschöpfliche Auskunftsquelle und, vor allem vom ersten Tage an, ein Freund war.

Das Programm umfasste Besuche bei Kirchen (sowohl in den Städten als auch auf dem Land), Seminaren, Printmedien, Altenheimen, einem Büro der Amity-Foundation sowie die Besichtigung von Kulturstätten und historischen Orten in fünf Städten: Shanghai, Hangzhou, Wuxi, Nanking und Peking.1

Das Team war vom CCC und von der Patriotischen Drei-Selbst-Bewegung (TSPM)2, eingeladen und am 20. März in deren Büros herzlich empfangen worden. Dabei waren Pfrin. Cao Shengjie, Präsidentin des CCC, und Pfr. (Ältester) Ji Jianhong, Vorsitzender der TSPM, die Vizepräsidenten und mehrere leitende Amtsträger der beiden Organisationen sowie Vertreterinnen und Vertreter des Christenrates von Shanghai und der TSPM zugegen. Das Team erläuterte die Besonderheit und den Zweck seiner Reise, die einigen der Gastgeber neu waren aber von allen ausdrücklich begrüßt wurden. Es schloss sich ein sehr inhaltsreiches Gespräch über das Zeugnis der christlichen Minderheit in der chinesischen sozialistischen Gesellschaft an, die nach einer gemeinsamen Basis für eine post-konfessionelle Kirche sucht, die wahrhaft vereint und wahrhaft chinesisch sein soll, sowie über den Begriff des "theologischen Wiederaufbaus"3 und die Einbettung der Kirche in das chinesische Umfeld.

Höhepunkt des Besuches war ein zweieinhalbstündiges Gespräch mit Bischof K. H. Ting, der das Team in seinem Hause in Nanking empfing. Mit seinen 89 Jahren ist Bischof Ting noch immer Präsident des Seminars in Nanking und einer der Stellvertretenden Vorsitzenden der Nationalen Politischen Konsultativ-Konferenz. Außerdem ist er zweifellos der geistliche Mentor der im CCC zusammengeschlossenen Kirchen. Er wies darauf hin, dass im Mittelpunkt seiner Bemühungen um den theologischen Wiederaufbau eine Neubewertung der Bedeutung der Lehre von der "Rechtfertigung durch den Glauben" im Denken der Kirchen in China stehe. Die Missionare hätten mit ihrer Botschaft den Gläubigen das Heil, allen anderen aber das Verderben gepredigt. Das sei in der Seele der chinesischen Christen vor allem auf dem Land, wo die meisten Kirchen anzutreffen sind, tief verwurzelt. Diese Lehre teile die Menschen in zwei Kategorien ein, in die "Erlösten" und die "Verlorenen". China aber brauche die Einheit, nicht die Spaltung.

"Rechtfertigung durch den Glauben" sei nicht die ganze christliche Lehre. Es gebe auch noch andere Dimensionen der biblischen Lehre, die im chinesischen Kontext hervorgehoben werden müssten, beispielsweise Gottes Liebe, die allen Menschen gelte. Bischof Ting stellte seine Gedanken in den Zusammenhang der christlichen Anthropologie. Der Mensch sei Objekt der fortdauernden Schöpfung Gottes. Die Theologie dürfe Menschen nicht als abgrundschlecht verurteilen. China habe viele führende Persönlichkeiten, die ein vorbildliches moralischen Verhalten an den Tag legten. Das Christentum solle dem chinesischen Volk einen Gott der Liebe nahe bringen und im Dialog mit der chinesischen Kultur dem Verstand und dem Denken Raum geben. Die theologische Ausbildung solle Pfarrern helfen, sich eine aufgeklärtere Theologie anzueignen.

In diesem Zusammenhang sprach Bischof Ting von "Kulturchristen", chinesischen Intellektuellen, die sich für das Christentum interessierten und inoffiziell in Gruppen zusammenkämen, um miteinander zu reden und sich mit der Bibel auseinander zu setzen. Manche von ihnen träten der Kirche bei, viele aber auch nicht. Chinesische Theologen und Pfarrer sollten imstande sein, mit den Menschen in diesen Kreisen ins Gespräch zu kommen. Dieses Verhältnis zu den chinesischen Intellektuellen nennt Bischof Ting "informelle Evangelisation". Er ist der Ansicht, "Intellektuelle in China wollen etwas Neues kennen lernen, wie z.B. das Christentum. Früher standen sie dem Christentum feindselig gegenüber, jetzt aber haben sie eine große Bereitschaft zu hören, was die Christen zu sagen haben. Sie sind neugierig; manche erfreuen sich an der Musik in unseren Kirchen; sie stellen uns viele ernsthafte Fragen. Das ist eine alltägliche Erfahrung. Auch wenn viele von ihnen nicht an der Kirche interessiert sind, so ist das doch ein sichtbarer Ausdruck und ein wichtiger Erfolg der Evangelisation."

Zu dem Begriff der post-konfessionellen Kirche4, lieferte Bischof Ting eine sehr hilfreiche geschichtliche Darstellung. Zur Zeit der Befreiung (1949) und des Korea-Krieges sei die Einheit des chinesischen Volkes oberstes Gebot gewesen. Jene Situation habe die Kirchen gezwungen, sich mit der Zerrissenheit ihrer Konfessionen und Institutionen auseinander zu setzen. Ein erster Schritt sei die Gründung des Union Seminary in Nanking gewesen. Allmählich hätten die chinesischen Christen begonnen, Einheit theologisch zu verstehen. Heute wollten viele Kirchen nicht mehr konfessionell sein – sie seien aber noch nicht vollständig vereint. Die beste Beschreibung für die derzeitige Phase sei "post-konfessionelle" Einheit.5 Der CCC könne eine sich vereinigende Kirche – noch nicht eine vereinigte Kirche genannt werden. Es gebe verschiedene Gruppen, die sich mit diesem Begriff noch nicht anfreunden könnten und sich dem CCC nur partiell verbunden fühlten, beispielsweise "Little Flock" (die Kleine Herde), "the True Jesus Church" (die Wahre Kirche Jesu) und die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten. Alle drei unterhielten jedoch gute Beziehungen zur TSPM, die keine ekklesiologischen Ansprüche stelle. Ein Weg, auf dem der CCC mit diesen Gruppen Kontakt halte, sei die Verteilung von Bibeln.

Das Team war beeindruckt, dass die Evangelisation zwar in diesem "post-konfessionellen" Rahmen stattfindet, aber dennoch ökumenisch ist. Evangelisation wird demnach im CCC nicht proselytisch verstanden. Sie hat in diesem Kontext nicht mehr die Aufgabe, Presbyterianer, Methodisten, Anglikaner oder Orthodoxe zu gewinnen. Ihr Ziel ist es vielmehr, inmitten der sich rasch verändernden sozialistischen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die des belebenden Evangeliums bedarf, ohne Rücksicht auf konfessionelle Schranken die Frohe Botschaft zu verbreiten.

Die chinesischen Kirchen und Menschen spüren Druck von den Kirchen im Ausland, ihre alten Konfessionen (wieder-)herzustellen und Mission und Evangelisation nach ihren jeweiligen konfessionellen Mustern zu betreiben. Zum Kostbarsten der chinesischen Kirche, mit dem sie dieser Herausforderung erfolgreich entgegentreten kann, gehört die Patriotische Drei-Selbst-Bewegung, von der in diesem Bericht bereits die Rede gewesen ist. Die drei Pfeiler dieser Bewegung (Selbstverwaltung, Selbstfinanzierung und Selbstgetragene Missionsarbeit) "waren für die Kirche bei der Verkündigung der Wahrheit des Evangeliums, bei der Bekräftigung unserer nationalen Unabhängigkeit und bei der Gewährleistung der Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung eindeutig von Vorteil. Sie hat den Lehren der Bibel von der Verherrlichung Gottes und ihrem Wert für die Menschen konkrete Gestalt gegeben (vgl. 1. Kor 9, 20-21; Mt 6, 16)."5

Das Team erkannte für die Kirchen in China zwei große Herausforderungen, die kreative und innovative Antworten verlangen. Zum einen das zahlenmäßige Wachstum, zum anderen das Streben nach Einheit. Hinzukommt als dritte Herausforderung die Entstehung einer chinesischen Kirche in einer sozialistischen Gesellschaft mit einem reichen kulturellen Erbe, die zur Zeit einen Prozess rascher Modernisierung und wirtschaftlichen Wachstums durchlebt. Alle Anstöße von außen, alle Bemühungen, die Kirchen in China zu begleiten, müssen auf diese Realitäten Rücksicht nehmen und respektieren, wie die Kirche darauf zu reagieren versucht.

Dass der christliche Glaube vor allem wegen der im allgemeinen offeneren Politik des Staates gegenüber der Religion zur Zeit ein so vehementes Wiederaufleben in China erfährt, hat die Bemühungen der Kirche um Mission und Evangelisation gewaltig beeinflusst. Der Katechismus des CCC6 definiert als "Auftrag der Kirche auf Erden":

  • Hirte der Christen zu sein und alle zuzurüsten, damit sie 'alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Mann, zum vollen Maß der Fülle Christi' (vgl. Eph 4, 11-13);
  • Christus zu bezeugen, das Evangelium zu predigen und Menschen zum Herrn zu führen (vgl. Mk 16, 15);
  • als 'goldener Leuchter' das Licht der Wahrheit Gottes durch die Kirche in die Welt scheinen zu lassen, zu sagen, was recht ist, Gerechtigkeit zu fördern, dem Irrtum zu wehren und die Finsternis zu vertreiben (vgl. Mt 5, 14-16; Offb 1, 12-13);
  • den Menschen und der Gesellschaft zu dienen, wie es Christus getan hat. (vgl. Mk 10, 45*; 1. Petr 4, 10-17)"7
  • .

    Der folgende Auszug aus der Märzausgabe der Zeitschrift der chinesischen Kirche "Tian Feng" von März 1999:"...berichtet über ein Symposium über selbstgetragene Missionsarbeit im November 1998 in Shanghai mit Teilnehmenden aus allen Gegenden von China und aller kirchlichen Ebenen, die zum Gedankenaustausch darüber zusammengekommen waren, wie die chinesische Kirche heute die Aufgabe der Evangelisation wahrnehmen soll.

    Die Teilnehmenden des Symposiums stimmten darin überein, dass es Hauptaufgabe jeder Kirche sei, das Evangelium auszubreiten und den Menschen Gott nahe zu bringen. Tong Yiqiang aus der Provinz Ningxia meinte, selbstgetragene Missionsarbeit sei dasjenige Element der "Drei Selbsts" – der drei Formen der Autonomie –, das die Kirche von anderen Organisationen in der Gesellschaft unterscheide. Jede Arbeitsstruktur und jede Organisation in der Gesellschaft sei bestrebt, sich ordentlich zu verwalten und finanziell selbst zu tragen, aber nur die Kirche strebe danach, die Gute Nachricht zu verbreiten. In ähnlichem Sinne meint Gao Siquan aus der Provinz Sichuan, wenn die selbstgetragene Missionsarbeit gut sei, dann würden auch die anderen beiden Elemente, Selbstverwaltung und Selbstfinanzierung, funktionieren. Wenn die Gläubigen eine gute, solide Unterweisung im Glauben erhielten, würden sie mit größerer Begeisterung eine Kirche unterstützen, die ihnen gibt, was sie brauchen. Deshalb sei selbstgetragene Missionsarbeit der Schlüssel zum Leben und Wirken der Kirche insgesamt.

    Jin Xuezha aus der Provinz Liaoning bemerkt, dass im Verlauf ihrer jüngsten Geschichte immer wieder andere Aspekte der "Drei Selbsts" für die Kirche im Vordergrund gestanden hätten. In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die Kirche gerade die Verbindungen zu den ausländischen Missionswerken abgebrochen hatte, seien Selbstverwaltung und Selbstfinanzierung vordringlich gewesen, da die Kirche auf Eigenständigkeit bedacht sein musste.

    Nach einer Zeit großer Bedrängnis und des Überlebenskampfes seien die Kirchentüren in den achtziger Jahren wieder geöffnet und dementsprechend der Missionsarbeit vorrangige Bedeutung beigemessen worden. Angesichts der erheblich wachsenden Mitgliederzahl erforderten jedoch Verwaltung und Selbstfinanzierung jetzt erneut die meiste Zeit und Kraft der kirchlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die sich darum bemühten, den dringendsten Bedürfnissen der wachsenden Gemeinden gerecht zu werden. Pfrin. Cao Shengjie aus Shanghai fügt hinzu, dass die Bemühungen in der Kirche vor allem darauf gerichtet seien, Kirchengebäude zu errichten, Verwaltungsgremien und Ausbildungsgruppen zu organisieren etc. So stünden im Mittelpunkt jedes Gesprächs auch über "Evangelisation" rein praktische Gesichtspunkte – wie ist eine Predigt zu verfassen und vorzutragen, welcher Tonfall ist auf der Kanzel zu verwenden, wie soll die Botschaft dargestellt werden und so weiter. All dies sei notwendig und nützlich, es bestehe jedoch die Gefahr, wie Pfrin. Cao hervorhebt, dass das Nachdenken über den Inhalt der kirchlichen Botschaft bei der Bewältigung dieser praktischen Probleme zu kurz kommt.

    Die ursprüngliche Botschaft des Evangeliums sei unveränderlich und zeitlos. Wie dieses Evangelium aber dargestellt und ausgelegt werde, sei jeweils an Zeit, Ort und Situation gebunden. Pfrin. Cao schreibt, die chinesischen Evangelisten sollten sich nicht nur auf Bücher verlassen, die vor langer Zeit von Theologen aus Übersee geschrieben worden sind, weil ihr Inhalt möglicherweise nicht in das heutige China passe. Wenn sich Evangelisten diese Texte zum Vorbild nähmen, dann werde ihre Botschaft möglicherweise nur deshalb missverstanden, missdeutet oder abgelehnt, weil sie nicht in die Wirklichkeit des heutigen China "passe" und die Menschen, die die Botschaft hören, nicht anspreche.

    Ganz ähnlich äußert sich Pfr. Wang Weifan aus der Provinz Jiangsu; für die chinesischen Gläubigen sei es von wesentlicher Bedeutung, dass sie in ihrem Leben ihre eigenen Erfahrungen mit den Wahrheiten des Evangeliums machten und dann, gestützt auf diese eigenen Erfahrungen, die Frohe Botschaft weitersagten. Pfr. Wang ist davon überzeugt, dass, wenn ein chinesischer Gläubiger bezeuge, wie die Botschaft des Evangeliums sein Leben verändert habe, dies viel mehr Menschen in China erreichen könne als die Botschaft aus einem theologischen Buch aus dem Westen.

    Schließlich ermahnt Lin Zhihua aus der Provinz Fujian die Evangelisten, dass sie ihren Hörern eine Brücke zwischen der heutigen modernen Welt und der Welt der Bibel bauen müssen. Deshalb müssten sich Evangelisten bemühen, möglichst viel von der Welt um sich herum und vom Leben derjenigen zu erfahren, die ihre Predigt hören. Und dann müssten sie versuchen, biblische und ewige Wahrheiten auf die Situation zu übertragen, in der ihre Zuhörer gerade leben. Lin zitiert den Prediger Charles Spurgeon, der im neunzehnten Jahrhundert auf die Frage, wie er seine Predigten vorbereite, antwortete: In die eine Hand nehme ich meine Bibel, in die andere die Zeitung. Predigten, die vor einigen Jahrzehnten den Nerv der Menschen trafen, würden eine chinesische Bevölkerung mit den Fragen der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nicht erreichen können. Lin meint, die Menschen kämen und hörten den Evangelisten zu, weil sie etwas hören wollten, was sie und ihr Leben heute direkt betrifft. Wenn die Evangelisten vor den Menschen nur mit einer Menge Bibelzitate um sich werfen, ihnen aber nicht deutlich machen könnten, welche Bedeutung die Heilige Schrift für ihre reale Lebenssituation in der Welt haben kann, dann würden sich die Menschen abwenden und die Botschaft des Evangeliums als überholt und belanglos ablehnen."8

    Eines der wichtigsten Mittel, mit denen die chinesischen Kirchen das Evangelium verbreiten, ist der Druck von Millionen von Bibeln. Obwohl große Teile der Bevölkerung noch immer Analphabeten sind, berichteten viele Pfarrer und Laien dem Team, dass sich die Evangelisation an den biblischen Geschichten über Jesus ausrichte.

    In diesem Zusammenhang erfuhr das Team bei seinem Besuch im Union Theological Seminary in Nanking, dass das Seminar in seiner Lehrtätigkeit bestrebt sei,

  • die Botschaft der Bibel in den Mittelpunkt zu stellen

  • biblische Texte mit den örtlichen Gegebenheiten in Verbindung zu bringen und
  • den Missionsauftrag, die Weiterverbreitung der Frohen Botschaft von der Erlösung aller Menschen, in den Vordergrund zu rücken.
  • Die Antwort auf die Frage im Katechismus des CCC, "Warum sollen wir die Bibel lesen?" macht deutlich, welche Rolle die Bibel als unentbehrliches Instrument der Mission und Evangelisation einnimmt. Sie lautet: "Wenn wir die Bibel lesen, können wir

  • durch den Glauben, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist, das Leben haben (vgl. Joh 5, 39; 20, 31)
  • vom Heil erfahren
  • die Lehre verstehen und Ermahnung, Zurechtweisung und Belehrung über das, was Gerechtigkeit bedeutet, erfahren
  • zur Vollkommenheit gelangen und Zurüstung für jedes gute Werk erhalten (vgl. Mt 7, 7-8, 11, 25)."9
  • .

    Die "Generationenlücke" in der Leitung der Kirche und im Pfarrerstand, die in der Zeit der Kulturrevolution (1965-1979) und in den davor liegenden Jahren entstanden ist und in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts große Sorgen bereitet hat, wird allmählich überwunden. Nach und nach übernehmen jüngere Menschen – unter ihnen viele Frauen – in den Ortsgemeinden, in den Seminaren und in den Gremien des CCC und der TSPM die Verantwortung. Für die Zukunft wird es ausschlaggebend sein, ob diese neue Generation die Chance erhält, ökumenische Erfahrungen in Theorie und Praxis zu sammeln.

    Die zunehmende Zahl junger Menschen, die sich zum Pfarramt berufen fühlen, steht in einem ausgewogenen Verhältnis zum Wachstum der Kirche; trotzdem herrscht noch immer Mangel an Pfarrerinnen und Pfarrern; an dieser Stelle gewinnt die Laienbewegung vitale Bedeutung für die Mission und Evangelisation der Kirchen.

    In einem der Gespräche berichtete ein Pfarrer dem Team, dass das Prinzip der protestantischen Reformation, das "allgemeine Priestertum aller Gläubigen", hier von herausragender Bedeutung sei, weil "jeder chinesische Christ Pfarrer und damit auch Evangelist ist und damit Jesu Vorbild folgt, der den Menschen von Angesicht zu Angesicht begegnet ist". Bischof Ting äußerte vor dem Team, "Evangelisation geschieht in großem Maße dadurch, dass Menschen ihre Freunde einfach mit in die Kirche bringen."

    Viele Christen sehen ihre Aufgabe, die Frohe Botschaft zu verbreiten, in dem Beispiel, das sie mit ihrem Tun geben – als stilles Zeugnis in der Gesellschaft. Ein Pfarrer, der Mitglied der Führungsspitze des CCC ist und mit dem Team zusammentraf, definierte Evangelisation als "christliche Präsenz unter den Menschen", und veranschaulichte das an der Bibelstelle, in der von der Erweckung des Lazarus durch Jesus die Rede ist. Er sagte, nachdem dies geschehen sei, habe Lazarus in der Menge gestanden und kein Wort gesagt; sein Schweigen aber sei Zeugnis von der befreienden, erlösenden und erweckenden Kraft des Herrn gewesen (Joh 11, 42-44).

    Die Entwicklung der "Marktwirtschaft" in China kann auch für kreative Evangelisation genutzt werden, wie es Chen Zhongli zeigt, deren Geschichte in einem anderen Artikel der ANS erzählt wird. Hier ein Ausschnitt daraus:

    "... Langsam konnten Chen und ihr Mann ihr Geschäft erweitern. Ihre Spezialitäten aus Nordjiangsu, etwa die 'Suppenklößchen' (tang bao), waren beliebt, und nachdem sie ein größeres Restaurant errichtet und ein zweites übernommen hatten, besaßen sie in Nanking zwei große Speiserestaurants in bester Lage. Im Januar 2003, kurz vor dem chinesischen Neujahrsfest, eröffneten sie noch eine dritte Niederlassung ihres Restaurants zum Goldenen Adler – ein großes, sorgfältig ausgestattetes Gebäude mit Wohnungen für 100 Kellnerinnen und Kellner, Köche und weiteres Personal.

    Das ungewöhnlichste Kennzeichen des jüngsten Betriebes von Chen ist wohl sein christliches Flair, das nicht nur von der Dekoration, sondern auch von der Art und Weise ausgeht, in der das Restaurant betrieben wird. Gäste der Speisesäle im vierten Stockwerk werden zum Beispiel von einer Reihe christlicher Bilder begrüßt, unter ihnen Maria mit dem Kind und Jesus Christus auf der Großen Mauer. "Wir haben ihr bei der Auswahl der Bilder geholfen", verrät ein enger Freund von Chen, der die Entwicklung ihres letzten Restaurantprojektes in ihrer Gebetsgruppe miterlebt hat. "Meine Gruppe in der Kirche hat mich tatkräftig unterstützt", bestätigt Chen, "immer wenn ich ein Problem hatte, haben sie mir geholfen und mich in ihre Gebete eingeschlossen."

    Chen ist 57 Jahre alt und seit sechs Jahren Christin. Anders als viele christliche Gläubige, die in Zeiten persönlicher Probleme oder Enttäuschung erstmals mit dem christlichen Glauben in Berührung kommen, fühlte sich Chen zum Christentum hingezogen, obwohl ihr Leben damals in sehr ruhigen Bahnen verlief. "Eine junge Frau hat mich mit dem Christentum bekannt gemacht und später mit zum Weihnachtsgottesdienst genommen. Es war wunderbar; als ich die Musik hörte, fühlte ich mich glücklich und frei von allen Sorgen."

    Die Angestellten des Restaurants nennen Chen "Tantchen", nicht "Chefin". Wenn man allerdings sieht, wie die bescheidene Managerin mit ihrem Personal umgeht, dann wird einem klar, dass ihr engagierter, warmherziger Leitungsstil die Achtung vor der Chefin nur noch vergrößert. Chen hat es sich auch zum Prinzip gemacht, jedem und jeder neuen Angestellten eine Bibel mit der Anweisung zu geben, sich mit dem christlichen Denken vertraut zu machen.

    "Als wir darüber diskutierten, ob wir ein drittes Restaurant eröffnen sollen, habe ich nur eine Bedingung gestellt", erinnert sich Chen, "ich wollte, dass es ein christlicher Ort sein sollte, und ich sagte meinem Mann und den Kindern, dass keiner der traditionellen Götter des Reichtums – die ja eigentlich Götzenbilder sind – in diesem Haus Platz finden sollte."

    Chen versteht diesen Betrieb klar als einen Ort, an dem man Menschen erreichen kann, die normalerweise keinen Fuß in eine Kirche setzen würden. "Funktionäre werden wahrscheinlich zu keinem Gottesdienst gehen, aber ein schickes Restaurant suchen sie schon mal auf," bemerkt Chen. Mit diesem Ziel vor Augen versteht sie ihre Arbeit als Berufung: "Wer wirklich glaubt, wird dankbar anerkennen, wie wichtig jeder Arbeitstag ist."

    Chens soziales Engagement hört aber nicht bei der Arbeit auf. Über die Amity Foundation unterstützt sie ein Kind, das die Schule aus Geldmangel hätte verlassen müssen. Und trotz ihrer vielen beruflichen Pflichten findet sie immer noch Zeit, dieses kleine Mädchen zu besuchen. "Ich habe vor, im Frühling wieder nach ihr zu sehen," sagt sie lächelnd."10

    Angesichts der derzeitigen Entwicklung der Kirche und ihres zunehmenden Einflusses in der Gesellschaft predigen natürlich Laien auch im wörtlichen Sinne die Frohe Botschaft, und dafür müssen sie zugerüstet werden. Die chinesischen Kirchen wenden erhebliche finanzielle Mittel und Energie für die Ausbildung von Laien auf, damit diese ihrer Berufung gerecht werden können. "Deshalb haben viele Ehrenamtliche eine Ausbildung erhalten, um so den Predigtdienst zu verstärken"11. Viele Kirchen zählen zu ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht nur Pfarrer und Pfarrerinnen, sondern auch "Evangelisten", Brüder und Schwestern mit einer besonderen Zurüstung für den Dienst auf diesem Arbeitsfeld der Kirche.

    "In China ist der Ausdruck "Evangelist" etwa gleichbedeutend mit 'Hilfspfarrer'. Evangelisten sind Vollzeit-Mitarbeiter der Kirche; sie haben eine reguläre theologische Ausbildung absolviert, sind aber noch nicht ordiniert. Seminar- und Bibelschulabsolventen können in China in der Regel nicht ordiniert werden, solange sie nicht einige Jahre in der Kirche tätig gewesen sind, und es ist nichts Ungewöhnliches, wenn kirchliche Mitarbeiter während eines großen Teils ihrer beruflichen Laufbahn oder bis zu deren Ende als Evangelisten tätig sind."12 Sie werden vor allem an 'Treffpunkten',13, aber auch in Kirchen eingesetzt."

    Auf dem Land, wo 80 % der chinesischen Christen leben, kommen viele Menschen in die Kirchen, wenn sie eine Heilung erlebt haben. Manche Menschen meinen, dass 80 % der neu zum Christentum Bekehrten durch eine übernatürliche Heilungserfahrung zum Glauben gefunden haben. Pfarrer und führende kirchliche Persönlichkeiten, mit denen das Team zusammengetroffen ist, bestätigten das. Das wird natürlich verständlicher, wenn man bedenkt, dass die medizinische Versorgung in diesen Teilen des Landes schlechter ist. Interessanterweise stimmte Bischof Ting in dem Gespräch über diese Frage zu, dass in den ländlichen Gebieten Menschen durch Heilungserfahrungen zur Kirche finden, aber, so sagte er, "das hat nicht unbedingt etwas mit Evangelisation zu tun." Dennoch hegen wir die Hoffnung, dem CCC Möglichkeiten schaffen zu können, dass er vor allem zu den Themen Heilung und Versöhnung etwas in den Prozess einbringen kann, der zur Weltmissionskonferenz 2005 hinführt.

    Trotz seines gewaltigen Wachstums stellt das Christentum in China noch immer eine ganz kleine Minderheit im Land dar; es bleibt also noch viel zu tun! Und zwar nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Im ersten und zweiten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts gab es im Verlauf eines Modernisierungsprozesses, den China zu jener Zeit durchlebte, eine starke Erweckungsbewegung und ein großes Wachstum; beides kam jedoch zum Erliegen. So etwas könnte sich durchaus wiederholen. Die Mission der Kirche wird in allen Gesellschaften, vor allem in solchen, die in einem Wandel begriffen sind – wie derzeit China – von Gott dazu befähigt, der aus der Sicht des Evangeliums die erforderlichen Mittel dazu gibt: "praktisches und kritisches Wahrnehmungsvermögen."

    Einer der kirchlichen Verantwortlichen äußerte sich bei einer der Zusammenkünfte auch zum Thema Mission und Evangelisation; seine Auffassung wird im folgenden kurz zusammengefasst wiedergegeben:

  • Wir sind eine wachsende Kirche (50 000 neue Christen im Jahr) – die Evangelisation wird von normalen Christen wahrgenommen, denen es obliegt, die Frohe Botschaft weiterzusagen – das hat großen Einfluss.
  • Der christliche Lebensstil ist Zeugnis in der Familie und am Arbeitsplatz – die Veränderungen im Leben der Christen ziehen andere Menschen an.
  • Die jetzt gewährte Religionsfreiheit – die Freiheit, neue Kirchen zu errichten, und die Freiheit der Religionsausübung – weckt Vertrauen unter Nichtchristen.
  • Die Kirche leistet durch ihr Zeugnis in der Gesellschaft Dienst am Menschen, Fürsorge für die Armen, Hilfe für die Bedürftigen sowie Sozialarbeit.
  • Vor allem aber gilt: der Hauptgrund für das Wachstum der Kirche ist, dass Gott in seinem Volk in China am Werk ist! Lasst uns festhalten am Gebet für die weitere Ausbreitung der Frohen Botschaft in diesem Teil der Welt!

    Ihr Bruder in Christus,

    Pfr. Dr. Carlos E. Ham
    Programmreferent für Evangelisation
    Genf, Juli 2003

    Betet für die Weltkonferenz für Mission und Evangelisation
    vom 12. – 19. Mai 2005 in Athen, Griechenland,
    zum Thema
    KOMM, HEILIGER GEIST, HEILE UND VERSÖHNE
    In Christus berufen, versöhnende und heilende Gemeinschaften zu sein.

    Notes:
    1. There is a full report of the visit to China, available upon request, in the WCC’s offices.
    2. At all levels in China: national, provincial, city and county, exist committees of the CCC and the TSPM representing two parallel structures which relate closely to each other and function on the basis of a commonly understood division of tasks. TSPM was set up in 1950, the CCC in 1980. The Three-Selves are Self-governing, Self-administrating and Self-propagating.
    3. “Theological reconstruction” is a concept launched by Bishop K.H. Ting. The aim is to overcome the simplistic and dualistic thinking of “saved” and “lost” inherited from the missionary period and develop a theology that can be in dialogue with Chinese culture and rapid modernization.
    4. The policy of “post-denominational” is pragmatic: churches of different denominational backgrounds are encouraged to unite in worship but also to respect differences when that unity is not – yet – possible.
    5. 100 Questions, p. 59.
    6. “100 Questions and Answers on the Christian Faith”, China Christian Council, 1983
    7. 100 Questions, p. 63-65.
    8. Ms. Theresa Carino, coordinator of the Amity’s Foundation Hong Kong office, shared with us this article, “Does the Church Have Anything to Say to Modern China”?, which was published by Amity News Service (ANS), 98.4.1.
    9. 100 Questions, p. 11-13.

    10. ANS, article “Dishing Out Baozi and Bibles: a Christian Entrepreneur in China”, 2003.3/4.8.
    11. LWF Studies. An Overview of Contemporary Chinese Churches. China Study Series Vol. 1, Jan. 1997, Lee Chee-Kong, p. 26.
    12. ANS, article “Reformed Roots, Post-Denominational Shoots”, 2003.3/4.7.
    13. Meeting points are groups of believers who have a regular meeting place for worship and a preacher (not ordained). They come under the supervision of an ordained pastor or voluntary church worker of a neighboring church. Meeting points can become churches as they grow in number and spiritually and acquire a church building for worship
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