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Das Friede für die Stadt Netzwerk enstand aus einer Kampagne mit demselben Namen, die im August 1997 ins Leben gerufen wurde und ihren Höhepunkt im Dezember 1998 feierte. Das Netzwerk war bis ins Jahr 2002 aktiv; seine Mitglieder - Kirchen, Organisationen über Frieden und Gerechtigkeit, Glaubensgemeinschaften und Zivilgesellschafts-Bewegungen - führen ihre Arbeit innerhalb des Rahmens der Dekade zur Überwindung von Gewalt (2001-2010) weiter

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FRIEDE AUF ERDEN:
EINE NEUE VISION UND PRAXIS

ÖRK-Generalsekretär Konrad Raiser
Ansprache auf der Konsultation über gewaltlose
Wege der Konfliktlösung, Corrymeela, 2. Juni 1994

Während wir hier in Corrymeela zum Gedanken- und Erfahrungsaustausch über gewaltlose Wege der Konfliktlösung zusammenkommen und damit teilweise den Beschluss des ÖRK-Zentralausschusses in Johannesburg einlösen, ein ökumenisches Programm zur Überwindung von Gewalt einzuleiten, gehen in Angola, Bosnien und Ruanda drei der grauenvollsten und gewalttätigsten Konflikte in dieser Generation weiter. Wir wissen, wie dringend wir einer neuen Vision und Praxis bedürfen, um im Sinne der biblischen Verheissung Frieden auf Erden zu verwirklichen; gleichzeitig sind wir uns aber auch mehr denn je der Kultur der Gewalt bewusst, die uns umgibt und gefangenhält, wie auch der Verzagtheit und Erfolglosigkeit unserer Bemühungen, Friedensstifter zu sein. Unsere Reaktion auf die unvorstellbaren menschlichen Leiden, die die anhaltenden Konflikte verursachen, und auf die Notwendigkeit, den Opfern zu helfen, nimmt offenbar alle unsere physischen und emotionalen Energien in Anspruch und lässt nur wenig Raum für ein geduldiges Hinarbeiten auf eine grössere Annahmebereitschaft für gewaltlose Methoden der Konfliktlösung. Als der Generalsekretär der Vereinten Nationen seine "Agenda für den Frieden" vorlegte, unterschied er zwischen Friedenssicherung, Friedensschaffung und Friedenskonsolidierung. Die offenkundige Ohnmacht und Schwäche der Vereinten Nationen als ein Instrument der Friedenssicherung hat die klassische Methode der Friedensschaffung durch militärische Intervention, angeblich zu humanitären Zwecken, wieder in den Vordergrund treten lassen. Dabei wird der längerfristigen Aufgabe der Friedenskonsolidierung und ihren spezifischen Erfordernissen wenig oder keine Beachtung geschenkt.

Wenn wir in diesen Tagen über gewaltlose Wege der Konfliktlösung und Strategien zur Überwindung von Gewalt diskutieren, dann müssen wir uns die Tatsache vor Augen halten, dass wir uns einer Tagesordnung zuwenden, die entgegen ihrer breiten biblischen Legitimation und langen ökumenischen Tradition heute weniger bereitwillig akzeptiert wird als vor fünf Jahren, als der Kalte Krieg seinem Ende zuging. Zwar leben wir heute nicht mehr in einer Situation, in der sich die beiden Machtblöcke mit ihren nuklearen Abschreckungssystemen gegenüberstehen, doch hat die Auflösung des alten Gleichgewichts des Schreckens nicht zu einer neuen internationalen Friedens- und Gerechtigkeitsordnung geführt. Vielmehr sind zahlreiche Bürgerkriege ausgebrochen, die in völliger Missachtung der elementarsten Normen des humanitären Völkerrechts ausgetragen werden. Die Einsichten und Überzeugungen, die wir in unserem jahrelangen Eintreten für Frieden und Gerechtigkeit gewonnen haben, helfen uns anscheinend nicht angesichts der Gewalt, die in diesen Konflikten zum Ausbruch kommt. Wir müssen mit unserer Analyse noch einmal von vorne anfangen und sollten dabei auch unsere Praxis kritisch überprüfen. Als Christen können wir nicht anders, als an der Hoffnung festhalten, dass Gott seiner Verheissung des Schalom treu bleiben wird. Es ist wohl eher dieser eschatologische Realismus als unsere moralischen und ethischen Überzeugungen im Zusammenhang mit Frieden und Gewaltlosigkeit, der uns vor Selbstgerechtigkeit oder Verzweiflung bewahrt.

I. Unser gemeinsames Vermächtnis
Die ökumenische Bewegung hat sich von Anfang an für den Aufbau einer dauerhaften Friedensordnung eingesetzt. Man kann nicht genug auf die frühen Impulse hinweisen, die von der Kirchlichen Friedensunion ausgingen, an den Beitrag der Christen zur Zweiten Haager Friedenskonferenz sowie an die Gründung des Internationalen Versöhnungsbundes und des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen. Wichtigster Ausdruck dieses frühen Engagements war die von Erzbischof Nathan Söderblom angeregte Bewegung für Praktisches Christentum. In einer gemeinsamen Resolution des Weltbundes und der Bewegung für Praktisches Christentum, die ein Echo auf den Briand-Kellogg-Pakt von 1928 darstellte, wurden die entscheidenden Elemente für ein ökumenisches Zeugnis für Frieden und gewaltlose Konfliktlösung formuliert. Diese sogenannte Eisenach-Avignon-Resolution von 1928/29 verwarf den Krieg als Mittel zur Beilegung von Konflikten und erklärte ihn als unvereinbar mit dem Geist und dem Weg Jesu Christi und seiner Kirche. Die Resolution forderte mit Nachdruck dazu auf, alle internationalen Konflikte und Streitigkeiten, die nicht auf dem normalen diplomatischen Weg beigelegt werden können, einem verbindlichen Schlichtungsverfahren, z.B. vor dem Internationalen Gerichtshof, zu unterwerfen. Sie rief die Kirchen dazu auf, unmissverständlich zu erklären, dass sie einen Krieg, dem nicht ein solches Schlichtungs- oder Vermittlungsverfahren vorausgegangen ist, weder unterstützen noch an ihm teilnehmen werden.

Zwischen dieser Resolution und den Aussagen der ökumenischen Versammlungen im Rahmen des konziliaren Prozesses (JPIC) 1989/90 besteht eine Analogie. Sie wurden jeweils zu einer Zeit formuliert, als Hoffnung bestand, dass der Krieg als eine Institution überwunden und geächtet werden könnte. In beiden Fällen änderte sich jedoch bald darauf das internationale Klima grundlegend. Die auf die Eisenach-Avignon-Resolution folgenden drei Jahrzehnte wurden immer stärker von einer Atmosphäre der Konfrontation bestimmt, die schliesslich zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führte. Die Erste Vollversammlung des ÖRK 1948 in Amsterdam konnte daher nur die Überzeugung der Oxforder Konferenz von 1937 wiederholen, dass Krieg nach Gottes Willen nicht sein solle und dass er als ein Zeichen der Macht der Sünde in dieser Welt verurteilt werden müsse. Zugleich aber gebot der Realismus den Christen, mit der Manifestation menschlicher Bosheit und Sünde zu rechnen, und so konnte die Vollversammlung, genau wie die Konferenz von Oxford, nur bestätigen, dass es in der Frage von Krieg und Frieden drei widerstreitende Grundpositionen gab. Diese Positionen waren:

1. die Haltung des klassischen Pazifismus, der sich jeder Teilnahme am Krieg verweigert und an die Stelle bewaffneter Gewalt die aktive Friedensarbeit setzt;

2. die Haltung der klassischen Staatsethik, wonach der Staat als von Gott eingesetzte Erhaltungsordnung notfalls auch zur Anwendung von Gewalt bereit sein muss, um die Gerechtigkeit zu verteidigen, und dass er Christen zur Verteidigung ihres Landes zum Waffendienst verpflichten kann;

3. die Haltung einer konsequenten Anwendung der Lehre vom gerechten Krieg, die zu der Schlussfolgerung kommt, dass der moderne, mit Massenvernichtungswaffen geführte Krieg niemals ein Akt der Gerechtigkeit sein kann. Diese Wiederentdeckung der kritischen Funktion der Lehre vom gerechten Krieg kann wohl als der bedeutendste Beitrag der frühen ökumenischen Konferenzen zu einer ökumenischen Friedensethik betrachtet werden.

Die Vollversammlung von Amsterdam hatte am Vorabend des Beginns des Kalten Krieges stattgefunden, und so waren die darauffolgenden Jahre durch das kontinuierliche Eintreten für Abrüstung und Rüstungsbeschränkung geprägt. Wichtiger noch war jedoch die Tatsache, dass man in diesen Jahren die unauflösliche Zusammengehörigkeit von Frieden und Gerechtigkeit wiederentdeckte. Frieden ist mehr als Abwesenheit von Krieg. Nicht nur Waffen bedrohen den Frieden, sondern auch Hunger, Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Der Satz aus der Entwicklungsenzyklika von Papst Paul VI. "Popolorum Progressio" (1967): "Entwicklung ist der neue Name für Frieden", fasst diese neue Einsicht prägnant zusammen. Damit verbunden war eine zunehmend kritische Einschätzung aller Konzepte zur Sicherung des Friedens, die rein militärisch orientiert waren, insbesondere der Doktrin der "nationalen Sicherheit". Wenn diese Einsichten auch eindeutig durch die internationale Konfrontationslage während des Kalten Krieges geprägt waren, so dürfen wir ihren grundlegenden Einfluss doch nicht aus den Augen verlieren. Die Erklärung der Vollversammlung von Vancouver zu "Frieden und Gerechtigkeit" stellt nach wie vor die verbindliche Zusammenfassung der in dieser Zeit gesammelten kritischen Einsichten und Überzeugungen dar.

Die ökumenische Überzeugung, dass "es nirgendwo je Frieden geben kann, wenn es nicht überall für alle Gerechtigkeit gibt", wurde im Rahmen des Programms zur Bekämpfung des Rassismus und dessen Unterstützung für Befreiungsbewegungen, die dem Unrecht des Rassismus mit militärischen Mitteln begegneten, auf ihre härteste Probe gestellt. Diese Herausforderung löste die bisher weitgehendste Reflexion des Ökumenischen Rates der Kirchen über "Gewalt und Gewaltlosigkeit im Kampf für soziale Gerechtigkeit" aus. Dabei wurden schliesslich die drei klassischen Grundhaltungen zu Krieg und Gewalt bekräftigt und die Vertreter der drei Positionen zur wechselseitigen Überprüfung ihrer Überzeugungen aufgefordert. Hinter diesen Grundhaltungen stehen verschiedene Auffassungen von dem Verhältnis der christlichen Gemeinschaft zur Staatsmacht. Diese versteckten Prämissen einer christlichen politischen Ethik müssen eingehender untersucht werden, wenn wir aus der Sackgasse herauskommen wollen, in die die ökumenische Bewegung in Fragen von Krieg und Frieden, Gewalt und Gewaltlosigkeit geraten ist.

II. Die neue Weltlage nach Beendigung des Kalten Krieges
Die internationalen Veränderungen nach 1989 haben tiefgreifende Implikationen für unsere Definition von Frieden und unsere Praxis der Friedenskonsolidierung. Ich brauche hier auf die Abfolge der verschiedenen Ereignisse nicht weiter einzugehen, doch müssen einige Elemente herausgehoben werden. Entgegen einer eurozentrischen Betrachtungsweise der grundlegenden Veränderungen, die stattgefunden haben, müssen wir uns vor Augen halten, dass das Jahr 1989-90 wohl einer jener epochemachenden Zeitabschnitte gewesen ist, die weltweite Konsequenzen haben. Die einschneidenden Ereignisse erschöpfen sich daher nicht im Zusammenbruch des Staatssozialismus in Osteuropa, sondern dazu gehören genauso das inzwischen besiegelte Ende der Apartheid in Südafrika, die neue Machtkonstellation in Mittelamerika, aber auch die Unterdrückung der Demokratiebewegung in der Volksrepublik China. Der Wandel in Europa hat in der "Charta für ein neues Europa", die auf dem KSZE-Gipfel im November 1990 in Paris angenommen wurde, seinen prägnanten Ausdruck gefunden. Parallel dazu wurde der erste wirkliche Abrüstungsprozess in Gang gesetzt, der weit über die bisherigen Massnahmen der Rüstungskontrolle hinausging. In zahlreichen anderen Teilen der Welt haben diese Veränderungen zu entschlossenen Schritten auf dem Weg zur Demokratie geführt, und auf internationaler Ebene ist die veränderte Rolle der Vereinten Nationen ein sichtbarer Ausdruck für den Anbruch einer neuen Phase in den internationalen Beziehungen. Das Ende des Kalten Krieges bedeutete ein Ende der bipolaren Konfrontation, die nicht nur die europäische und nordatlantische politische Bühne jahrzehntelang beherrscht, sondern auch den Rahmen für die Weltpolitik insgesamt abgesteckt hatte. Die Frage einer internationalen Friedensordnung ist nicht länger nur Gegenstand theoretischer Diskussionen, sondern ist heute in den Mittelpunkt internationaler Politik getreten.

Der Golfkrieg, der nur kurze Zeit nach diesen epochemachenden Veränderungen geführt wurde, zeigte jedoch deutlich, dass der Schritt von der Konfrontation zur Kooperation weder automatisch noch eindeutig ist. Die Debatte, die während der Siebten Vollversammlung des ÖRK in Canberra über die Erklärung zum Golfkrieg geführt wurde, liess erkennen, dass die Kirchen noch nicht in der Lage sind, eine kohärente Antwort auf die Frage zu geben, wie internationale Konflikte auf Wegen beigelegt werden können und sollten, die Frieden in Gerechtigkeit fördern. Dieses Dilemma ist angesichts der jüngsten gewalttätigen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien und in mehreren afrikanischen Ländern noch schärfer zutage getreten. Das Wiederaufleben des Nationalismus, die Erfahrung von Völkermord und ethnischer Säuberung sowie die Unfähigkeit der Vereinten Nationen, ihre Rolle als Instrument der Friedenssicherung zu spielen, haben ein Klima der Verunsicherung und Verwirrung geschaffen. Weder politisch noch ethisch herrscht Klarheit darüber, wie die Probleme zu definieren sind und folglich, wie sie angemessen gelöst werden können. Am meisten irritiert jedoch die Tatsache, dass nationale Identität, ethnisches Selbstbewusstsein und religiöse Zugehörigkeit in der Mehrzahl dieser Konflikte mehr und mehr zu einer explosiven Mischung werden, die eine Lösung der Probleme schier unmöglich erscheinen lässt. Zwar werden nur wenige der nach dem Kalten Krieg aufgebrochenen Konflikte primär aus religiösen Gründen ausgetragen, doch werden religiöse Loyalitäten für politische Zwecke instrumentalisiert und manipuliert, und die betroffenen religiösen Gemeinschaften, ob Christen. Muslime oder andere, haben sich weitgehend als unfähig erwiesen, sich gegen diese Pervertierung ihrer wahren Integrität zu schützen. Daraus folgt, dass religiöse Gemeinschaften, einschliesslich der christlichen Kirchen, in demselben Masse Teil des Problems sind wie sie zu seiner Lösung beitragen könnten.

Die rapide Veränderung des internationalen Klimas in den Jahren nach 1989 erinnert an eine analoge Veränderung des politischen Klimas vor sechzig Jahren. Die hohen Erwartungen während der ausgehenden 20er Jahre, wie sie im Briand-Kellogg-Pakt und in dessen ökumenischem Gegenstück, der Eisenach-Avignon-Resolution, zum Ausdruck kamen, wurden mit dem Aufkommen von Faschismus, Stalinismus und Nationalsozialismus enttäuscht. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 und danach leitete die Entwicklung ein, die letztlich zum Zweiten Weltkrieg führte. Bei aller Vorsicht, die bei historischen Analogien geboten ist, fordert die gegenwärtige Brüchigkeit der internationalen Ordnungsstrukturen von den Christen ein noch entschiedeneres Zeugnis im Dienst von Frieden und Gerechtigkeit.

Auf ökumenischer Ebene sind die Jahre 1989-90 als Höhepunkt des konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung anzusehen. Zwar wurden die im Verlauf dieses Prozesses gewonnenen Einsichten und Überzeugungen von den darauffolgenden Ereignissen weitgehend überschattet, doch kann die ökumenische Bewegung nicht hinter den breiten Konsensus zurückgehen, der in diesen Jahren unter voller Beteiligung der römisch-katholischen Kirche erreicht worden ist. Vier Grundüberzeugungen können herausgestellt werden, die für unsere gegenwärtige Reflexion weiterhin als Richtlinien dienen sollten.

1. Krieg ist kein legitimes Mittel zwischenstaatlicher Politik mehr. Moderne Kriege unter Einsatz von Massenvernichtungswaffen, die keinen Unterschied zwischen Zivilbevölkerung und Kriegsteilnehmern machen, müssen nach den ethischen Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg abgelehnt und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit geächtet werden.

2. Gerechtigkeit und Frieden gehören untrennbar zusammen. Frieden ist nicht allein Abwesenheit von Krieg, und Strukturen der Ungerechtigkeit stellen eine permanente Bedrohung für die Sicherheit der Menschen dar. Der Prozess der Erhaltung und Konsolidierung des Friedens muss begleitet sein von dem beharrlichen Eintreten für grössere Gerechtigkeit und konsequentere Respektierung der Menschenrechte. An die Stelle der klassischen Lehre vom gerechten Krieg, die Kriege verhindern oder begrenzen sollte, muss heute die Konzeption eines gerechten Friedens treten. Krieg kann nicht länger ein Akt der Gerechtigkeit sein.

3. Sicherheit ist nicht allein ein militärisches Problem im Zusammenhang mit der Erhaltung staatlicher Ordnung und Integrität. Es geht vielmehr darum, dass die Menschen in Sicherheit leben können. Eine solche Sicherheit kann nur in Zusammenarbeit, d.h. als gemeinsame Sicherheit gewährleistet werden. Daher sind kooperative Sicherheitssysteme auf regionaler Basis zentrale Bausteine einer neuen internationalen Friedensordnung.

4. Dem langjährigen Zeugnis der historischen Friedenskirchen für Gewaltlosigkeit kommt in der heutigen Situation neue Bedeutung zu. Es stellt die grundlegendste Herausforderung an die herrschende Kultur der Gewalt dar und ist daher nicht mehr länger eine zwar achtenswerte, aber idealistische und apolitische Position, sondern es lässt deutlich werden, dass eine neue politische Vernunft gefordert ist, die wir erlernen müssen, wenn die Menschheit überleben soll.

Diese Überzeugungen, die noch vor vier oder fünf Jahren auf breite Zustimmung gestossen sind, scheinen heute fehl am Platz in einer Situation, in der Kriege zunehmend wieder als ein legitimes Mittel der Politik betrachtet werden. Aggression, so wird behauptet, kann nur durch Gewalt gestoppt werden, und von den Kirchen wird wieder erwartet, dass sie den Einsatz militärischer Macht zur Verteidigung der internationalen Ordnung und humanitärer Grundsätze unterstützen oder sich zumindest der öffentlichen Kritik enthalten. Die Lehre vom gerechten Krieg wird wieder zur Legitimierung "humanitärer Interventionen" benutzt, und alte Feindbilder, die man längst überwunden glaubte, tauchen in neuem Gewande wieder auf. Die entscheidende Frage ist, ob wir auf die Unsicherheit und Turbulenzen der gegenwärtigen Situation nach dem Reaktionsmuster antworten wollen, das sich in den Jahrzehnten der Konfrontation herausgebildet hat, oder ob wir die heutige Situation als eine Phase des Übergangs und der Neuorientierung verstehen können. Zum erstenmal seit sechzig Jahren ist die Verwirklichung einer neuen internationalen Friedensordnung, die von einer neuen Vision und Praxis untermauert wird, möglich und gleichzeitig auch dringend notwendig geworden.

III. Der Beitrag der Kirchen zum Aufbau einer Friedensordnung
Christen und Kirchen leben in der Verheissung eines neuen Himmels und einer neuen Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt. Zum alttestamentlichen Schalom-Begriff gehören die Dimensionen Frieden, Gerechtigkeit und Ganzheit der Schöpfung. Der biblische Befehl an die Jünger Christi, Frieden zu stiften und Versöhnung zu predigen, gewinnt angesichts des Zusammenbruchs von Gemeinschaften und der Ausbreitung einer Kultur der Gewalt eine neue Dringlichkeit. Die JPIC-Weltversammlung 1990 in Seoul rief zur Förderung einer Kultur der aktiven Gewaltlosigkeit auf, die lebensfreundlich ist und keinen Rückzug aus Situationen der Gewalt oder Unterdrückung darstellt, sondern ein Engagement für Gerechtigkeit und Befreiung. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen verpflichteten sich, "unsere persönlichen Beziehungen gewaltlos zu gestalten. Wir werden darauf hinarbeiten, dass auf den Krieg als legales Mittel zur Lösung von Konflikten verzichtet wird. Wir verlangen von den Regierungen, dass sie eine internationale Rechtsordnung schaffen, die der Verwirklichung des Friedens dient." In einem Hintergrundpapier zur "Überwindung von Geist, Logik und Praxis des Krieges", das auf der Tagung des ÖRK-Zentralausschusses im Januar 1994 in Johannesburg vorgelegt wurde, hiess es: "Angesichts der Notwendigkeit, ‘dem Geist, der Logik und der Praxis des Krieges' entgegenzutreten und sie zu überwinden und neue theologische Ansätze zu entwickeln, die den Lehren Christi entsprechen - also nicht vom Krieg ausgehen, um zum Frieden zu kommen, sondern bei der Notwendigkeit von Gerechtigkeit ansetzen -, mag es an der Zeit sein, dass die Kirchen gemeinsam die Herausforderung annehmen, auf jede theologische oder sonstige Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt zu verzichten - ob im Krieg oder im Rahmen eines Sicherheitssystems, das auf militärischer Abschreckung beruht -, und eine Koinonia zu werden, die sich für einen gerechten Frieden einsetzt."

Ein grosser Teil der heutigen Konflikte ist auf Unrechtsverhältnisse zurückzuführen, d.h. auf die immer breiter werdende Kluft zwischen Arm und Reich (innerhalb von Staaten wie auch im zwischenstaatlichen Vergleich), auf Machtkämpfe, Wiederaufleben von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Gewalt gegen Frauen und Kinder, rücksichtslosen Verbrauch der natürlichen Ressourcen, Ausbreitung des Waffenhandels - während Millionen Menschen an Mangelernährung und Krankheiten sterben. Zahlreiche Konflikte gehen auch auf alte Streitigkeiten zurück, die in der Zeit der Konfrontation der beiden Grossmächte unterdrückt worden waren, d.h. auf Spannungen zwischen ethnischen, nationalen, Religions-, Sprachen- und Rassengruppen. In vielen solchen Fällen ist der Versuch, den Konflikt mit Mitteln der Gewalt zu regeln, ein Indiz dafür, dass selbst die elementarsten Formen der Kommunikation nicht mehr funktionieren. Viele der heutigen Konflikte hätten wohl niemals ein so erschreckendes Ausmass an Gewalt angenommen, wenn nicht so reichlich hochentwickelte und immer kostspieligere Waffen zur Verfügung gestanden hätten und wenn das Militär nicht von der Ideologie der nationalen Sicherheit indoktriniert wäre.

Frieden schaffen ist zweifellos eine komplexe Aufgabe, und der Beitrag, den Christen und Kirchen dazu leisten können, muss mit realistischer Bescheidenheit gesehen werden. Verglichen mit der Situation vor sechzig Jahren haben die Kirchen heute auf der ganzen Welt nur begrenzt die Möglichkeit, die politischen Entscheidungsprozesse zu beeinflussen. Die historischen Kirchen, insbesondere evangelischer und orthodoxer Tradition, sehen sich dem Dilemma einer zweigeteilten Loyalität ausgesetzt, gegenüber ihrem Volk und Land auf der einen und gegenüber dem universalen Leib Christi auf der anderen Seite. Ich möchte auf drei Möglichkeiten hinweisen, wie die Kirchen zum Aufbau einer internationalen Friedensordnung beitragen können: durch Förderung eines grundlegenden Bewusstseinswandels, durch den Aufbau von Beziehungsnetzen und durch Unterstützung konkreter Initiativen, die dem Frieden und der gewaltlosen Beilegung von Konflikten dienen.

a) Förderung des Bewusstseinswandels. Ist die Überwindung der Institution des Krieges ein idealistisches, utopisches Ziel? Noch immer jedenfalls gilt es als realistisch, von der geschichtlichen Unvermeidlichkeit militärischer Konflikte zwischen Staaten auszugehen. Ethik und Rechtsordnung waren bisher allenfalls darauf ausgerichtet, den Krieg zu zähmen und einzugrenzen, d.h. den Rahmen festzulegen, innerhalb dessen Kriege als legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln angesehen werden konnten. Diese traditionelle Einstellung zum Krieg findet ihre geschichtliche Analogie in der Institution der Fehde zur Regelung von Konflikten zwischen Sippen, Familien oder Einzelpersonen in früheren Gesellschaften. Die christlichen Kirchen haben im ausgehenden Mittelalter entscheidend zur Durchsetzung eines allgemeinen Landfriedens beigetragen und damit den Weg zur Überwindung der Fehde geebnet. An ihre Stelle trat eine staatlich geschützte Rechtsordnung, und dem Staat wurde das Gewaltmonopol zuerkannt.

Wir stehen heute an dem Punkt, wo im Blick auf zwischenstaatliche Konflikte derselbe Schritt unternommen werden muss. Die alten ethischen und rechtlichen Regeln greifen im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen nicht mehr. An die Stelle der militärischen Konfliktregelung muss eine internationale Rechtsordnung treten, die die Integrität und die Rechte von Völkern und Staaten wirksam schützt und damit den Einsatz militärischer Gewalt zur Verteidigung der Souveränität überflüssig macht. Diese Forderung mag utopisch klingen, doch ist sie zu einer Überlebens-notwendigkeit geworden. Die Verwirklichung einer solchen Rechtsordnung setzt einen grundlegen politischen und moralischen Bewusstseinswandel voraus, der Zeit braucht. Und gerade hier haben die Kirchen einen unverzichtbaren Beitrag zu leisten.

Ihre potentiell bedeutende Rolle wird erkennbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass alle kriegführenden Staaten sich der moralischen oder religiösen Legitimation ihres Handelns zu versichern suchen. Kriege sind immer ein ethischer Grenzfall, und deshalb suchen die Verantwortlichen nach religiös begründeter Rechtfertigung und reagieren empfindlich, wenn ihnen diese verweigert wird. Wenn die Kirchen allerdings auf eine Entlegitimierung des Krieges hinarbeiten wollen, dann müssen sie sich ernsthaft auf die Bedingungen für einen gerechten Frieden konzentrieren, anstatt weiter über die relative Gerechtigkeit von Kriegen nachzudenken.

Die Charta der Vereinten Nationen sieht einen Katalog von Massnahmen zur Friedenssicherung vor, die bislang jedoch nur selten wirklich angewandt worden sind. Dies gilt insbesondere für den Internationalen Gerichtshof, dessen Urteilen diejenigen Staaten, die der Verletzung völkerrechtlicher Grundsätze angeklagt werden, häufig mit höflichem Desinteresse begegnen. Die Einrichtung eines internationalen Tribunals zur Verfolgung von Kriegsverbrechern im ehemaligen Jugoslawien könnte ein wichtiger Schritt zur Beendigung der allgemeinen Straffreiheit sein, die diejenigen geniessen, die sich massiver Verletzungen der Menschenrechte schuldig gemacht haben. Eines der wichtigsten Ziele im Rahmen dieses neuen Ansatzes zur friedlichen Beilegung von Konflikten muss in jedem Fall das Bemühen sein, die Respektierung der Grundnormen des humanitären Völkerrechts wiederherzustellen und fester zu verankern. Es geht hierbei um die Grundlagen unseres Zusammenlebens als Staatsbürger und als Mitmenschen, und die Kirchen können in diesem Bereich einen wichtigen Beitrag leisten.

Der Golfkrieg, aber auch der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien haben die Grenzen der UN-Einflussnahme gezeigt und zu einer Reihe von Vorschlägen für eine Reform des Systems der Vereinten Nationen und ihrer Charta geführt. Ein konkreter Bereich, der ein Überdenken erfordert, ist die Anwendung von wirtschaftlichen Sanktionen und anderen Embargoformen mit dem Ziel, Druck auf die Konfliktparteien auszuüben und eine Einigung oder zumindest eine Begrenzung des Konflikts zu erreichen. Während die Sanktionspolitik im Fall des Apartheidregimes in Südafrika zunehmende Unterstützung gefunden und wohl zum endgültigen Zusammenbruch des Systems beigetragen hat, werden im Zusammenhang mit den Sanktionen gegen Serbien oder Haiti zahlreiche Zweifel angemeldet. In beiden Fällen hat die Verhängung von Sanktionen unbeabsichtigt dazu geführt, dass die Position der Machtinhaber gestärkt und der Konflikt infolgedessen verlängert wurde. Der Zentralausschuss des ÖRK hat auf seiner Tagung in Johannesburg die Empfehlung angenommen, eine Studie zur Sanktionspolitik und ihrer Anwendung als Instrument der gewaltlosen Beilegung von Konflikten in Auftrag zu geben. Ein konkretes Beispiel ist der Einsatz von Waffenembargos und die Entwicklung internationaler Kontrollmechanismen für den Waffenhandel. In allen genannten Fällen können die Kirchen entscheidend dazu beitragen, solchen Vorstössen die notwendige Öffentlichkeit und Politikfähigkeit zu verschaffen.

b) Aufbau von Beziehungsnetzen. So wichtig es auch ist, dass sich die Kirchen öffentlich für solche Vorschläge und Vorgehensweisen zur gewaltlosen Beilegung von Konflikten stark machen, so dürfen wir doch nicht vergessen, dass die Kirchen und die ökumenischen Organisationen nicht in erster Linie öffentliche Institutionen sind, sondern Gemeinschaften von Menschen. Worauf es ankommt, das sind die Erfahrungen von Menschen in Konfliktsituationen und ihr aktiver Beitrag zum Aufbau eines neuen staatsbürgerlichen Verantwortungsbewusstseins, das sowohl innerhalb als auch zwischen Gesellschaften zum Tragen kommt. Immer mehr gewalttätige Konflikte entstehen aus Machtrivalitäten zwischen kleinen Eliten, die ganze Bevölkerungen als Geiseln nehmen. In dieser Situation wird es um so wichtiger, dass sich die Kirchen und die ökumenischen Organisationen darauf konzentrieren, die elementaren Bindungen innerhalb der Gemeinschaften zu festigen oder das soziale Beziehungsnetz neu zu knüpfen, wenn dieses zerstört worden ist. In vielen Gesellschaften sind der Wiederaufbau von Gemeinschaft und der Abbau von tiefverwurzelten Feindbildern zu vorrangigen Aufgaben geworden, die die Zusammenarbeit aller Mitglieder der Zivilgesellschaft erfordern. Zu den überlieferten Werten vieler Kulturen und insbesondere der traditionalen Gesellschaften zählen Kenntnisse der gewaltlosen Konfliktbeilegung und des Widerstands gegen Gewalt von aussen. Jüngere Beispiele der Friedensforschung und -praxis in verschiedenen Kontexten belegen, dass diese traditionalen Netzwerke sozialer Beziehungen im Interesse der Friedensschaffung und Konfliktlösung mobilisiert werden können.

Ein verwandter Aspekt ist die Einrichtung von Frühwarnsystemen zur Konfliktprävention. Früherkennung und rechtzeitige Vorbeugung erfordern neue und andere Wege, Informationen zu sammeln und weiterzugeben, d.h. ein Informationssystem, das die Signale aus der Alltagswirklichkeit der Menschen aufnimmt. Kirchen und ökumenische Einrichtungen haben in diesem Bereich einen Vorteil gegenüber Regierungen und zwischenstaatlichen Einrichtungen, weil sie in allen Teilen der Welt in den kleinsten Lebenszusammenhängen der Menschen verwurzelt sind. Vorausgesetzt, sie entwickeln das notwendige Gespür, so müssten sie in der Lage sein, Konflikte zu erkennen, bevor diese offen ausbrechen. Sie können daher zur Früherkennung von innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Konflikten beitragen und vorbeugenden Massnahmen den Weg bereiten.

Eine der Grundursachen für gesellschaftliche und internationale Konflikte zwischen Staaten und Bevölkerungsgruppen ist die verzerrte Wahrneh-mung der anderen, ihrer Absichten und Interessen. Der Golfkrieg und der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien haben höchst beunruhigende Beispiele dafür geliefert, in welchem Masse heute Propaganda und gezielte Falschinformation als Waffen gegen den jeweiligen Feind eingesetzt werden. Auf diesem Hintergrund gewinnt die Grundüberzeugung der Weltversammlung in Seoul neue Bedeutung, in der es heisst: "Wir bekräftigen, dass die Wahrheit zur Grundlage einer Gemeinschaft freier Menschen gehört." Eine gerechte internationale Friedensordnung kann nur dann Bestand haben, wenn alle Seiten uneingeschränkten Zugang zu den Informationsmitteln haben und gleichzeitig in der Lage sind, ihre eigene Situation ungehindert darzustellen. Die Kirchen können daher zum Aufbau einer dauerhaften Friedensordnung beitragen, wenn sie sich zu unerschrockenen Anwälten der Wahrheit machen und sich für eine uneingeschränkte Kommunikation einsetzen. Insbesondere können sie als Vermittler und Überbringer von wahrheitsgetreuen Informationen zwischen den Konfliktparteien agieren. Sie können Propaganda und Falschinformationen aufdecken und so den Boden für eine mögliche Beilegung des Konflikts bereiten.

Wie ich bereits erwähnt habe, wird die Religion in vielen Fällen zu einem wichtigen Faktor in der Dynamik von Konflikten. Besonders in Osteuropa, aber auch in anderen Teilen der Welt ist die öffentliche Rolle der Religion als eine der Grundlagen kollektiver Identität wieder deutlich hervorgetreten. In Anbetracht der Tendenz, die Religion für politische Zwecke zu instrumentalisieren und zu manipulieren, müssen alle Religionsgemeinschaften und speziell die Kirchen es als ihre Verantwortung betrachten, die Gefahr eines wirklichen Religionskonflikts mit allen seinen irrationalen Zügen abzuwenden. Seit Anfang dieses Jahrhunderts hat es sich die ökumenische Bewegung zur Aufgabe gemacht, unter Beweis zu stellen, dass die weltweite christliche Gemeinschaft ein solidarisches Beziehungsnetz ist, das nationale, ethnische, kulturelle und sprachliche Grenzen überschreitet. Heute gilt es, diese Aufgabe auf das Verhältnis zwischen den Weltreligionen auszuweiten. Alle Religionen kennen und anerkennen das Grundgebot der Nächstenliebe. Religionskonflikte stellen daher immer eine Verletzung dieser Grundverpflichtung dar. Kirchen und Christen müssen deshalb dazu bereit sein, der Kreuzzugsmentalität den Boden zu entziehen und für eine globale Ethik des Friedens und der Gewaltlosigkeit einzutreten. Die Arbeit der Weltkonferenz für Religion und Frieden und die Erklärung des Weltparlaments der Religionen, das unlängst in Chicago zusammentrat, sind als wichtige Bemühungen in dieser Richtung anzusehen. Sie müssen allerdings umgesetzt und den jeweiligen alltäglichen Beziehungen verschiedener, an einem Ort zusammenlebender Religionsgemeinschaften angepasst werden.

c) Initiativen im Dienst von Frieden und gewaltloser Konfliktregelung. Ein konkreter Vorschlag, der sich im Zuge des konziliaren Prozesses herausgebildet hat, gilt der Einrichtung von ökumenischen Friedens-diensten für Gerechtigkeit und Versöhnung. Dieser Vorschlag gründet in den Erfahrungen der christlichen Friedenskirchen und zahlreicher ähnlicher Initiativen ohne explizit religiösen Hintergrund. Es gibt heute in der internationalen Versöhnungsarbeit genug Zeugnisse dafür, dass nicht nur innerstaatliche, sondern auch internationale Konflikte durch die verschiedenen Formen öffentlicher Präsenz sowie durch frühzeitige Information und kompetente Vermittlung entschärft oder gar gelöst werden können. Im christlichen Kontext hat sich hier eine neue Form des politischen Diakonats herausgebildet, die nach offizieller Anerkennung auch durch die grossen Kirchen verlangt. Vergegenwärtigt man sich, mit welchem Aufwand junge Menschen für den Kriegsdienst ausgebildet und vorbereitet werden, dann wird deutlich, wie unterentwickelt die Kompetenz der Gesellschaft zur gewaltlosen Lösung von Konflikten ist. Die neueren Erfahrungen mit dem Einsatz von UN-Friedenstruppen sind Beispiele dafür, dass militärisch ausgebildete Soldaten nur ungenügend darauf vorbereitet sind, als Friedensstifter zu wirken, und dass sie in dieser Rolle nicht selbstverständlich von der Bevölkerung in den Konfliktgebieten anerkannt werden. Solange es noch keine erkennbare Neuorientierung der politischen Prioritäten gibt, müssten die Kirchen Initiativen ergreifen, um Menschen für die Aufgaben der Konflikt-beobachtung, Vermittlung und Schlichtung vorzubereiten und auszubilden. Die Erfahrungen der Friedensbrigaden in Mittelamerika, der Friedens-komitees in Nicaragua oder des Ökumenischen Beobachtungsprogramms Südafrika sind hier als Anregung und Ermutigung zu werten.

So wichtig solche Initiativen zur Eindämmung oder Beilegung von Konflikten im Frühstadium auch sind, in der Mehrzahl der Fälle werden Kirchen und christliche Gemeinschaften in die Dynamik gewalttätiger Konflikte hineingezogen. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben eine wichtige Form des christlichen Versöhnungsdienstes erkennbar gemacht: den Dienst an Menschen, denen Krieg, Gewalt und Folter emotionale und psychologische Traumata zugefügt haben. Die im früheren Jugoslawien eingerichteten Zentren für Frauen, die vergewaltigt worden sind, das Trauma-Zentrum in Kapstadt und ähnliche Einrichtungen für Kinder, die Zeugen von Greueltaten, oftmals in ihrer engsten Familie, geworden sind, belegen, wie dringend die Opfer von Krieg und Gewalt spirituelle, seelsorgerliche und psychologische Hilfe brauchen. Diese Wunden heilen oft viel langsamer als die körperlichen Wunden, doch wird in diesen Heilungsprozessen die Saat für eine künftige Versöhnung gesät.

Die Versöhnungsarbeit bleibt eine Aufgabe, die auch nach Einstellung der Feindseligkeiten in Konfliktsituationen weitergehen muss. Versöhnung setzt die Bereitschaft voraus, die unverhüllte und häufig gewaltbereite Konfrontationshaltung aufzugeben und sich auf einen Dialog einzulassen. Dieser Übergang ist die kritischste Phase der Friedensschaffung. Aus jüngster Zeit gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass die Kirchen einen wichtigen Beitrag leisten können, indem sie den Weg für eine konstruktive Kommunikation zwischen den Konfliktparteien frei machen. In der Phase des Umbruchs in Mittel- und Osteuropa wurde das Modell des "Runden Tisches" entwickelt, der alle politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen zusammenführt, um gemeinsam über die Zukunft der Gesellschaft nachzudenken. In vielen Fällen sind kirchliche Persönlichkeiten gebeten worden, den Vorsitz bei solchen Runden Tischen zu führen. In mehreren afrikanischen Ländern haben Versöhnungs-bemühungen wieder an traditionelle Formen der Konsensbildung angeknüpft und an der entscheidenden Rolle, die die Ältesten in Grossfamilien oder Stämmen bei der Regelung von Konflikten spielen. Diese Beispiele belegen die Bemühungen, konfrontative Strategien zur Konfliktbewältigung, die auf Sieg und Niederlage abzielen, in kooperative Prozesse zu verwandeln, die allen tatsächlichen und potentiellen Konfliktpartnern gleichberechtigte Teilnahme gewähren. Die Kirchen besitzen in der alten Tradition konziliarer Konfliktregelung einen Erfahrungsschatz, den es gilt, für den politisch-gesellschaftlichen Bereich fruchtbar zu machen.

Ein aktiver und glaubwürdiger Beitrag der Kirchen zu Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung setzt allerdings die Bereitschaft zum Eingeständnis des eigenen Versagens sowie der Mitverantwortung und Schuld voraus, wenn der Teufelskreis von Feindschaft und Vorurteil durchbrochen werden soll. Dies wird um so wichtiger angesichts der Tendenz, in alte Verhaltensmuster der Aufrechnung historischen Unrechts zurückzufallen und die Kirchen zur Legitimation von ethnisch-nationalen Machtansprüchen zu missbrauchen. Zum Glück gibt es Beispiele, wo die Kirchen eine führende Rolle auf dem Weg zu einer Friedenskultur gespielt haben, speziell in Südafrika, aber oft genug sind die Kirchen Teil des Problems, insbesondere dort, wo sie eng mit nationalen Bestrebungen verquickt sind und sich mit diesen identifizieren. Wie können wir am besten ein dauerhaftes Zeugnis davon ablegen, dass unsere oberste Treuepflicht gegenüber Jesus Christus und dem ganzen Volk Gottes besteht, und uns dem Nationalismus widersetzen, der so häufig Fremdenhass, Rassismus und vielerlei Formen der Diskriminierung hervorbringt? Auch die Opfer können zu Unterdrückern werden.

Der Aufruf zur Versöhnung ist ein Ruf, der an uns alle ergeht. Wir wissen, dass Versöhnung hier in Nordirland wie in so vielen Teilen der Welt, die auf dieser Tagung vertreten sind, eine ungeheuer schwierige Aufgabe ist. Jesu Worte fordern uns noch immer heraus, doch ist mit der Herausforderung auch die Verheissung gegeben: "Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht" (Johannes 14, 27).

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