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22. Oktober 1999

EVANGELISCHE HOCHSCHULE IN KUBA VERZEICHNET REKORDWACHSTUM UND SIGNIFIKANTE VERÄNDERUNGEN


Während seines viertägigen seelsorgerlichen Besuchs in Kuba verbrachte der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Pfr. Dr. Konrad Raiser, den 11. Oktober in der Evangelischen Theologischen Hochschule in Matanzas, 110 km von Havanna entfernt.

Raiser wird auf seiner Reise, die ihn in vier Länder der Region führt, von einer Delegation ökumenischer Führungspersönlichkeiten begleitet, der u.a. Dr. Walter Altmann, der Präsident des Lateinamerikanischen Rates der Kirchen, und Pfr. Carlos Emilio Ham, einer der Präsidenten der Karibischen Konferenz der Kirchen, angehören. Die Delegation verlässt Kuba am 14. Oktober und reist weiter nach Haiti.

Während seines Besuchs in Matanzas führte Raiser Gespräche mit Studierenden und Fakultätsmitgliedern und erfuhr, dass die theologische Hochschule ein Rekordwachstum zu verzeichnen hat. Laut Pfrin Dr. Ofelia Ortega, gegenwärtige Rektorin der Hochschule und ehemalige ÖRK-Mitarbeiterin, zählt die Hochschule zur Zeit 127 Studierende; weitere 159 nehmen an Fortbildungsprogrammen teil, die von der Fakultät beaufsichtigt werden. Ortega, eine presbyterianische Pastorin, die gegenwärtig Vorsitzende der ÖRK-Kommission für Bildungsarbeit und ökumenische Ausbildung ist, wies darauf hin, dass es heute eine Warteliste für zukünftige Studierende gibt.

Das ist eine sehr grosse Veränderung im Vergleich zu der Situation vor 20 Jahren, als die Hochschule nur sechs Studierende hatte, von denen zwei aus Afrika kamen. Doch obwohl die Hochschule in den 70er und 80er Jahren bei kubanischen Studierenden nicht sehr gefragt war, bot sie doch einen sicheren Raum für Begegnungen zwischen kirchlich Aktiven aus ganz Lateinamerika, die zu Hause, "im Schatten von Diktaturen", keinen Ort fanden, wo sie über den Kampf für Menschenrechte und wirtschaftliche Gerechtigkeit diskutieren konnten.

Heute haben sich die Dinge an der Hochschule geändert, nicht nur quantitativ, sondern auch im Blick auf die Lehrinhalte. Fragen zur Rolle der Geschlechter in einem Land, das trotz vier Jahrzehnten der Revolution noch mit dem Problem des Machismo zu kämpfen hat, werden in allen Fachbereichen der Hochschule diskutiert, und Ortega wies darauf hin, dass alle Studierenden einen zweisemestrigen Pflichtkurs zum Thema "Theologie und Geschlechterdifferenz" belegen müssen. Die Hochschule hat sich ferner intensiv darum bemüht, den Studierenden zu helfen, eine Gottesdienstform zu entwickeln, die rein kubanisch geprägt ist. "Wir bringen unsere kubanische Kultur in unsere Liturgie, in die Lieder, die wir singen und schreiben, in unser Kirchesein ein",sagte Ortega. Die Delegation erlebte diese liturgische Erneuerung in einem Gottesdienst, der in der Kapelle der Hochschule von Studierenden gehalten wurde.

Die Rektorin ging ebenfalls darauf ein, dass die Hochschule in ganz neuer Weise am Leben der Gemeinschaft teilnimmt. Die Studierenden und Fakultätsmitglieder arbeiten mit Nachbarschaftsgruppen in Matanzas an der Entwicklung eines Programm zur Förderung ökologisch verantwortlichen Verhaltens. "Wir arbeiten mit der Gemeinschaft, mit der Zivilgesellschaft zusammen, wie wir das bisher noch nie gekannt haben", sagte Ortega. "Wir lernen, was es heisst, eine Kirche zu sein, die aus ihren Mauern herauskommt und eine voll engagierte, kubanische Kirche wird."

Zusammen mit Altmann und Ham führte Raiser ein mehrstündiges Gespräch mit Studierenden und Mitgliedern des Lehrkörpers. Die Studierenden stellten den Vertretern und Vertreterinnen der Ökumene Fragen zu Themen, die vom interreligiösen Dialog bis zur Ökumenischen Dekade "Solidarität der Kirchen mit den Frauen", die der ÖRK kürzlich abgeschlossen hat, reichten. Sie fragten auch nach der Haltung des ÖRK zu den Pfingstkirchen, die einen wichtigen Teil der kubanischen Kirchengemeinschaft ausmachen.

Raiser räumte ein, dass "es in der ökumenischen Gemeinschaft eine Tendenz gibt, defensiv auf das Wachstum des pfingstkirchlichen Zeugnisses zu reagieren", verwies aber auch darauf, dass "zunehmend anerkannt wird, dass die Pfingstbewegung eine eigene und neue Ausdrucksform des christlichen Glaubens darstellt, die nicht einfach unter der allgemeinen protestantischen Ethik subsumiert werden kann".

Altmann fügte hinzu, dass viele Kirchen in der ganzen Region auf das Wachstum der Pfingstbewegung "entweder mit einer defensiven Haltung gegenüber den Pfingstgemeinden reagieren oder aber versuchen, sie zu kopieren", um ihren religiösen Marktwert zu behaupten. Altmann erinnerte die Studierenden an die Unterscheidung, die der peruanische Theologe Bernardo Campos zwischen "Pfingstbewegtheit" als dem Wirken des Geistes in unserer heutigen Zeit und "Pfingstbewegung" als einer geschichtlichen, institutionalisierten Ausdrucksform dieses Wirkens trifft.

Auf eine Frage zum US-Handelsembargo gegen Kuba antwortete Raiser, der ÖRK und andere ökumenische Einrichtungen hätten "sich klar (gegen das Embargo) ausgesprochen", aber er fügte hinzu, dass die Kirchen in den USA den Grossteil der Arbeit gegen die Sanktionen leisteten. "Der Kampf muss in den USA gekämpft und gewonnen werden", sagte Raiser. "Und er wird letztlich Erfolg haben, denn es ist eine Bewegung, die die Veränderung der US-amerikanischen Politik von unten anstrebt."

In einer sehr lebendigen Diskussion mit 15 Fakultätsmitgliedern fragte Raiser die Professoren und Professorinnen, wie sie das schnelle Wachstum der Kirche in Kuba in den letzten Jahren interpretierten.

Francisco Rodes, ein baptistischer Pastor und Professor für lateinamerikanische Kirchengeschichte, räumte ein, dass allgemein davon ausgegangen werde, dass das Wachstum der Kirchen eine Reaktion auf die harten wirtschaftlichen Zeiten sei.

Trotz voller Kirchen in ganz Kuba wies Rodes warnend darauf hin, dass "ein Gefühl des Triumphalismus" die Christen dazu verleiten könnte, "zu optimistisch zu sein, falsch zu interpretieren, was um uns herum geschieht. Wir müssen uns fragen, ob die Menschen in der Kirche bleiben, wenn die Dinge sich normalisieren...Viele Menschen, die in diesem Jahrzehnt in die Kirche gekommen sind, haben sie nach zwei oder drei Jahren wieder verlassen". Die Kirchen müssen, so Rodes, ihren christlichen Bildungsauftrag neu überdenken, damit "ein oberflächliches Verständnis vom Glauben" überwunden werden kann.

Raiser äusserte sich sehr zufrieden darüber, dass die Diskussion mit den Studierenden auch die neuen religiösen Bewegungen zum Gegenstand hatte. "Sie sind sich bewusst, dass wir uns auf eine Zeit zubewegen, in der wir nicht mehr automatisch von der Hegemonie des Christentums ausgehen können", sagte er. "Sie sind interessiert daran, sich damit auseinanderzusetzen, Kriterien zu entwickeln, wie diese Fragen angegangen werden können. Ich finde das sehr ermutigend."

Delegationsmitglieder zeigten sich sehr beeindruckt von der Hochschule. "Es ist ein Ort, von dem ich schon seit langem gehört habe", sagte Raiser. "Es ist einer der zentralen Orte in der Welt, wo kritische theologische und politische Reflexion stattfindet."

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