Ökumenischer Rat der Kirchen Kommunikationsabteilung
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ZENTRALAUSSCHUSS
29. Januar - 6. Februar 2001
Potsdam, Deutschland

3. Februar 2001

Deutsche Kirchen ziehen vor ihren Schwesterkirchen selbstkritische Bilanz "Säkularisierung bietet Chance zur Erneuerung"


In einer eineinhalbstündigen Abendveranstaltung stellten die deutschen Kirchen am Freitag, 2. Februar, dem in Potsdam tagenden Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) ihre Rolle als "Kirchen in einer säkularen Gesellschaft" vor. Dabei wurden nicht nur die Probleme der Kirchen in der modernen Gesellschaft angesprochen, sondern auch neue Modelle des Zugangs der Kirchen zu den Menschen vorgestellt.

Um das Ausmass der Säkularisierung in Deutschland zu illustrieren, berichtete Tim Kuschnerus, Ökumene-Referent des EKD-Kirchenamtes, über ein Ereignis während der RTL-Quizshow "Wer wird Millionär?": Keiner der Kandidaten konnte die Begriffe Himmel, Name, Reich und Wille aus dem Vaterunser innerhalb 20 Sekunden in die richtige Reihenfolge bringen, was das Boulevardblatt "Bild-Zeitung" fragen liess: "Verabschiedet sich eine Nation von Gott?" Obwohl über 60 Prozent der Deutschen einer christlichen Kirche angehörten, sei nicht nur die Bindung an die Kirchen, sondern auch das christliche Grundwissen zurückgegangen. 1975 gingen 5,5 Prozent der Mitglieder der EKD-Kirchen in den Sonntagsgottesdienst, 1998 waren es noch 4,2 Prozent. Kuschnerus bezeichnete dies als eine "missionarische Herausforderung" für die Kirchen.

Der evangelisch-methodistische Bischof Walter Klaiber erläuterte den Vertretern der 342 ÖRK-Mitgliedskirchen die religiöse Landschaft Deutschlands: Während in manchen Gegenden Deutschlands die Zugehörigkeit zu einer Kirche noch als selbstverständlich angesehen werde, habe insbesondere in Ostdeutschland die SED-Kirchenpolitik zu einer weitgehenden Entkirchlichung geführt. Dieser "Atheismus in der dritten Generation" biete für die ostdeutschen Kirchen wenig Gelegenheit zu missionarischen Aktivitäten, weil oft jedes Interesse an religiösen Themen fehle. In anderen Regionen Deutschlands, hauptsächlich in den Grossstädten, gebe es durchaus ein latentes Interesse an Religion, aber die Menschen würden sich von Kirche fernhalten und "ihre eigene Religion zusammen basteln". Klaiber berichtete, dass in der "Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen" (ACK) derzeit ein Studienprozess laufe, in der die Kirchen Inhalt und Ziel ihrer Mission in der Gesellschaft klären und neue, offenere Formen gemeindlichen Lebens entwickeln wollen.

Der Berliner Altbischof Dr. Martin Kruse berichtete von dem aus Hamburg übernommenen Modell der "Kircheneintrittsstelle". Dieser "bescheidene Weg" erlaube es Interessierten, an drei bekannten Kirchen im Berliner Stadtgebiet ohne besondere Formalitäten in die Kirche einzutreten. Nach den Erfahrungen Kruses würde dieses Angebot in erster Linie von Menschen genutzt, die getauft sind und "eine gewisse christliche Erziehung" erlebt hätten, aber irgendwann, teilweise auf Grund negativer Erfahrungen mit der Kirche, ausgetreten seien. Besonderer Vorzug der Kircheneintrittsstellen sei, dass sie Gelegenheit zum persönlichen Gespräch böten. Viele Menschen würden sich danach sehnen, "der Kirche" wieder persönlich und nicht als Institution zu begegnen.

Am Beispiel des Deutschen Evangelischen Kirchentages erläuterte dessen frühere Generalsekretärin Dr. Margot Kässmann, jetzt Bischöfin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, die "Chancen eines offenen Angebotes für Laien, Kirchenferne und junge Menschen". Ein "Erfolgsrezept" des Kirchentags mit seinen bis zu 120.000 Teilnehmern sei der auf breite Beteiligung angelegte Vorbereitungsprozess, der den Mitwirkenden ganz andere Erfahrungen mit Kirche ermögliche als der ansonsten oft "langweilige Alltag" in vielen Gemeinden.

"Wenn die Kirche zu den Menschen geht, wenn sie ihre Schwellen niedrig ansetzt, dann erreicht sie die Menschen" - dieses Fazit zog Bischöfin Kässmann aus der EXPO-Beteiligung der Kirchen: Das Ausmass des Interesses am "Christuspavillon", der von 1,8 Millionen Menschen besucht worden sei, habe sogar die Veranstalter überrascht. Während der fünf Monate der Weltausstellung seien 2.175 Stundengebete und 74 Gottesdienste gefeiert worden, allein an den Gottesdiensten nahmen über 40.000 Besucherinnen und Besucher teil. Kässmann schlug eine kirchliche Beteiligung auch an der nächsten Weltausstellung in Japan vor, die nach ihrer Ansicht von den japanischen Kirchen zusammen mit dem ÖRK organisiert werden sollte.

In einer Bilanz des Abends wies Heike Bosien, die 1998 als Jugenddelegierte in den Zentralausschuss des ÖRK gewählt wurde, auf die Chancen hin, die sich für die Kirchen aus der Säkularisierung ergäben: Die Tatsache, dass es nicht mehr selbstverständlich sei, "in die Kirche hinein geboren" zu werden und ihr "von der Wiege bis zur Bahre" anzugehören, zwinge die Kirchen, mehr auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen. So seien in ihrer Landeskirche neue Gottesdienstmodelle äusserst erfolgreich: Mit Gottesdiensten zu anderen Zeiten, für bestimmte Zielgruppen und zu bestimmten Themen erreiche man Menschen, die den üblichen 10-Uhr-Gottesdienst am Sonntag niemals besuchen würden. Bosien stellte auch die Frage, ob die Messlatte der Beteiligung am Sonntagsgottesdienst überhaupt angemessen sei: Auch Jugend- und Kindergruppen, Frauenkreise oder Friedensgruppen müssten als kirchliche Aktivitäten angesehen werden, obwohl der grösste Teil der dort Mitwirkenden kaum Gottesdienste mitfeiern würden. Selbst die durch zurück gehende Einnahmen "erzwungene Überprüfung der Prioritäten" habe nicht nur negative Folgen, denn dies könne zu einer "Erneuerung der Kirche" führen.

Zentralausschuss: Fotos


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