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7. August 2000

Verstärkter Wille zur Überwindung von bewaffneter Gewalt
von Miriam Reidy-Prost


Es war ein tragischer Zufall: Eine regionale ökumenische Konsultation über "Umgang mit bewaffneter Gewalt in lateinamerikanischen Gesellschaften" begann in Rio de Janeiro genau zu dem Zeitpunkt, an dem sich die öffentliche Aufmerksamkeit in Brasilien auf Gewalt und den Gebrauch von Kleinwaffen richtete. Die ökumenische Konsultation wurde vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und dem Lateinamerikanischen Rat der Kirchen (CLAI) zusammen mit der in Rio ansässigen Nichtregierungsorganisation Viva Rio veranstaltet.

Am 12. Juni wurde im Fernsehen live ein Raubüberfall auf einen Bus übertragen - eine Medien-Premiere. Das vierstündige Drama, bei dem die Polizei irrtümlicherweise eine der weiblichen Geiseln erschoss und dann den Täter auf dem Weg ins Krankenhaus kaltblütig erdrosselte, löste im ganzen Land einen Sturm von Debatten und Protesten aus. Viele waren der Meinung, dass Inkompetenz und Brutalität durch bessere Ausbildung und Kontrolle der Polizei vermieden werden könnte.

Acht Tage später sandte der brasilianische Justizminister eine Gesetzesvorlage, in der Handel und Besitz von Feuerwaffen geächtet werden, zur Abstimmung an den Senat.

Am 7. Juli startete Viva Rio eine landesweite Kampagne gegen Gewalt und für eine Ächtung von Kleinwaffen. Das Motto der Kampagne lautet: "Genug! Ich will Frieden!" (Basta! Eu Quero Paz).

Letztes Jahr sammelte Viva Rio 1.350.000 Unterschriften für die Ächtung von Gebrauch und Verkauf von Kleinwaffen. Der ÖRK hat diese Kampagne unterstützt und seine Mitgliedskirchen sowie das Internationale Aktionsnetz "Kleinwaffen" (IANK) aufgerufen, es ihm gleichzutun. Viva Rio ist durch seine Friedensbemühungen unter den verschiedenen Gemeinschaften der Stadt und durch seine Arbeit im Bereich der Mikroabrüstung Gründungspartner des ÖRK Netzwerks "Friede für die Stadt" geworden; die Organisation arbeitet auch im Kontext der Dekade zur Überwindung von Gewalt: Kirchen für Frieden und Versöhnung (2001-2010) eng mit dem Rat zusammen.

Nationale Kampagne
Um sieben Uhr abends am siebten Tag des siebten Monats im Jahr 2000 sahen Millionen von Menschen in ganz Brasilien die beliebte Schauspielerin Fernanda Montenegro auf ihrem Lieblingskanal im Fernsehen: Sie forderte sie auf, das Licht auszumachen, Kerzen in ihre Fenster zu stellen und weiss gekleidet zur Arbeit zu gehen, um ihren Wunsch zu manifestieren, dass Gewalt und Verbrechen beendet und Gebrauch und Verkauf von Kleinwaffen geächtet werden. Viele sind dieser Aufforderung gefolgt ... und so war eine landesweite Kampagne ins Leben gerufen!

Am selben Tag verteilte Viva Rio in 14 Bundeshauptstädten - darunter so gewaltträchtige Städte wie Recife, Brasilia, Salvador, Virotia, São Paulo und Rio - Manifeste gegen bewaffnete Gewalt und für eine Ächtung von Kleinwaffen.

Die Unterzeichner des Manifests haben Demonstrationen organisiert und sich verpflichtet, Freunden und Nachbarn die Ziele der Kampagne - "soziale Investitionen" für die Jugend in den ärmsten und gewalttätigsten Stadtbezirken, Verabschiedung des Gesetzesentwurfs, Polizeireform sowie Demokratisierung des Rechtssystems - zu erläutern und einen Regierungsbeschluss zu fordern. (Die Gesetzesvorlage muss mit einer entschlossenen Opposition der einflussreichen brasilianischen Rüstungsindustrie rechnen, dem drittgrössten Kleinwaffen-Exporteur der Welt.]

Viva Rio stellte eine Wand von 150 Quadratmetern auf und teilte sie in eine "Wand des Schmerzes" und eine "Wand der Hoffnung". Auf der einen brachten hunderte von Angehörigen und Freunden Fotos und Texte im Zusammenhang mit Gewaltopfern, darunter auch Polizeibeamte, an, während andere, einschliesslich Kinder und Graffiti-Künstler, auf der anderen Wand ihre Ideen zur Überwindung von Gewalt in den Städten anhefteten. Die Wand wird durch das Land ziehen und soll dabei immer grösser werden. Ihr Ziel ist die Hauptstadt Brasilia, wo sie am 7. September, dem Unabhängigkeitstag, im Nationalkongress aufgestellt werden soll.

Als Teil der Kampagne schlägt Viva Rio einen internationalen Boykott von Waffen- und Munitionsexporten nach Paraguay vor. Die Organisation ist überzeugt, dass Paraguay die Waffen nach Brasilien zurückbringt und an das organisierte Verbrechen verkauft. Viva Rio drängt auch auf eine Begegnung zwischen US-amerikanischen und brasilianischen Rechtsanwälten, um zu prüfen, wie man dem US-Waffenhersteller Taurus&Rossie gegenüber am besten den Schaden geltend machen kann, den seine Produkte in der Bevölkerung des Grossraums von Rio angerichtet haben und weiter anrichten.

Regionale und internationale Ansätze
An der ÖRK/CLAI-Konsultation im Golden Park Hotel von Rio nahmen 35 Fachleute sowie kirchliche und religiöse Führungspersönlichkeiten teil - alle von dem Wunsch beseelt, der Gewalt in der Stadt ein Ende zu bereiten und die Weiterverbreitung von Kleinwaffen unter Kontrolle zu bringen.

Unter den Teilnehmenden war auch der Autor der Gesetzesvorlage, die zurzeit vom brasilianischen Senat geprüft wird, Senator José Roberto Arruda. Der UNESCO-Vertreter in Brasilien, Jorge Werthein, und die New Yorker Anwältinnen Elisa Barnes und Juli Dugan, die erfolgreich die US-Rüstungsindustrie auf Schadenersatz für US-Bürger verklagt haben, nahmen ebenfalls teil.

Die Konsultation hatte sich folgende Ziel gesetzt: einen regionalen Aktionsplan für den Umgang mit bewaffneter Gewalt und den rechtswidrigen Gebrauch von Kleinwaffen auszuarbeiten, ein regionales ökumenisches Netz zu schaffen (das sowohl mit dem Ökumenischen Netz gegen Kleinwaffen [ÖNK] als auch mit dem IANK verbunden ist) und die Teilnahme der Kirchen an der UN-Konferenz über den unerlaubten Handel mit Kleinwaffen und leichten Waffen unter allen Aspekten vorzubereiten, die 2001 stattfindet.

Salpy Eskidjian, die die Konsultation koordinierte und im ÖRK-Team für internationale Beziehungen für Frieden und Abrüstung zuständig ist, und der Koordinator des CLAI-Friedensbüros, Rafael Goto, eröffneten die Konsultation und informierten über die Friedensarbeit ihrer Organisationen.

Der Direktor von Viva Rio, Rubem Cesar Fernandes, ein Mitglied der Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten (CCIA), sprach von einer lateinamerikanischen "Kultur der Gewalt" und über die Ursachen und Folgen der Verbreitung von Kleinwaffen. Teilnehmende aus einem Dutzend von mittel- und südamerikanischen Ländern berichteten darüber, wie sich die Verbreitung der Waffen auf die örtlichen Gemeinschaften auswirkt und welche Rolle die Zivilgesellschaft und die Kirchen spielen.

Ein argentinischer Feldforscher für Rüstungsdaten erklärte, wie die florierenden legalen und illegalen Märkte für Kleinwaffen in der Region funktionieren, und ein Entwicklungsexperte aus Guatemala stellte einige der legalen und anderen Massnahmen und Mechanismen vor, die für den Umgang mit dem Problem der Kleinwaffen in Lateinamerika zur Verfügung stehen.

Die Konsultation hob den Zusammenhang hervor, der zwischen der Nachfrage nach und dem Missbrauch von Waffen einerseits und den desolaten sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen andererseits besteht. Gerade in den örtlichen Gemeinschaften - auf den Strassen der städtischen Slums - werden Waffen am häufigsten als eine persönliche Lösung für die endemische und systematische soziale und wirtschaftliche Auflösung gesehen, hiess es.

Die Konsultation betonte aber auch, dass "das Ziel der Waffenkontrolle nicht warten kann, bis die tief sitzenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme gelöst sind. Waffenkontrolle muss sofort und mit Nachdruck angestrebt werden..."

Die ÖRK-Forschungsassistentin Denise Garcia sprach darüber, wann und wie das Problem der Kleinwaffen auf der internationalen Tagesordnung aufgetaucht ist; der Direktor des Projekts "Pflugscharen" am Kanadischen Institut für Friedens- und Konfliktforschung, Ernie Regehr, der auch CCIA-Kommissionsmitglied ist, berichtete über die Entwicklung einer internationalen Norm für die Kontrolle von Kleinwaffen und über die Aussichten für die UN-Konferenz 2001.

Die Konsultation begrüsste die Bemühungen, internationale Normen und Standards für die Einschränkung von Transfer, Besitz und Gebrauch von Waffen aufzustellen, darunter eine "Interamerikanische Konvention gegen die unerlaubte Herstellung und den Schmuggel von Feuerwaffen, Munition, Sprengstoffen und anderem verwandten Material", die 1997 von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verabschiedet wurde, und der Entwurf eines UN-"Protokolls gegen die unerlaubte Herstellung und den Schmuggel von Feuerwaffen, Waffenteilen und Munition", das die UN-Konvention gegen das transnationale organisierte Verbrechen ergänzen soll.

Die Konsultation, die am 28. Juli zu Ende ging, erliess einen dringenden Aufruf an die Kirchen in der Region, sich mit dem Problem der bewaffneten Gewalt im Allgemeinen und der Verbreitung und des Missbrauchs von Kleinwaffen im Besonderen auseinanderzusetzen. Die Kirchen haben nicht nur eine besondere Verantwortung, moralische und ethische Perspektiven zu dem Thema aufzuzeigen, sie kennen auch die Bedürfnisse der Menschen und haben damit eine ideale Ausgangsposition, um Bewusstseinsbildung zu betreiben, hiess es in dem Appell.

In dem Bewusstsein, dass sich in Brasilien und auf der ganzen Welt immer mehr der Wille zeigt, bewaffnete Gewalt zu überwinden und den Besitz und Verkauf von Kleinwaffen unter Kontrolle zu bringen, formulierte die Konsultation den Schlusssatz: "Es ist an der Zeit, dass die Kirchen Nein zu Waffen sagen!"

Miriam Reidy-Prost ist Mitglied des ÖRK-Teams für Information und Öffentlichkeitsarbeit.

Dekade zur Überwindung von Gewalt (2001-2010)

Auf der Achten ÖRK-Vollversammlung in Harare, Simbabwe, riefen die Delegierten aus den mehr als 300 ÖRK-Mitgliedskirchen die Dekade zur Überwindung von Gewalt (DOV) ins Leben. Die Vollversammlung erklärte, der ÖRK solle in Fragen der Gewaltlosigkeit und Versöhnung "strategisch mit den Kirchen zusammenarbeiten, um eine Kultur der Gewaltlosigkeit zu schaffen". Die Dekade, die im Februar 2001 weltweit ausgerufen werden wird, wird auf den Initiativen aufbauen, die bereits weltweit existieren und ein Forum bieten, auf dem Erfahrungen ausgetauscht und Beziehungen hergestellt werden, um voneinander zu lernen.

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Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) ist eine Gemeinschaft von 337 Kirchen in über 100 Ländern auf allen Kontinenten und aus praktisch allen christlichen Traditionen. Die römisch-katholische Kirche ist keine Mitgliedskirche, arbeitet aber mit dem ÖRK zusammen. Oberstes Leitungsorgan ist die Vollversammlung, die ungefähr alle sieben Jahre zussammentritt. Der ÖRK wurde 1948 in Amsterdam (Niederlande) offiziell gegründet. An der Spitze der Mitarbeiterschaft steht Generalsekretär Konrad Raiser von der Evangelischen Kirche in Deutschland.