Oekumenischer Rat der Kirchen

Bericht des Generalsekretärs
Dokument Nr. PL 4.1

1. Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus (Röm. 1,7). Mit diesem Gruss des Apostels heisse ich Sie willkommen zu dieser Achten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. Mein Willkommensgruss gilt zunächst Ihnen, den Delegierten, die Sie die mehr als 330 Mitgliedskirchen des Rates vertreten. Die meisten von Ihnen sind weit gereist, um nach Harare zu kommen. Für viele ist es nicht nur der erste Besuch in Afrika, sondern auch das erste Mal, dass Sie an einer ökumenischen Zusammenkunft dieses Ausmasses teilnehmen. Möge Gott durch den Heiligen Geist unsere Begegnungen, Beratungen und Entscheidungen segnen. Ich begrüsse diejenigen unter Ihnen, die als delegierte Vertreter, Beobachter, Berater oder Ehrengäste hier sind und so für uns das weitere Umfeld der ökumenischen Bewegung sichtbar machen, zu der der Ökumenische Rat als ein wichtiger Teil gehört.


Rev. Dr Konrad Raiser

Ich heisse die vielen Besucher willkommen, deren Anwesenheit uns daran erinnert, dass Millionen von Christen und Christinnen in der ganzen Welt diese Vollversammlung mit ihren Gedanken und Gebeten begleiten. Schliesslich möchte ich einen besonderen Gruss an die Vertreter der Kirchen in Simbabwe richten, an unsere Gastgeber. All denen, die während der letzten Monate und Jahre hier in Simbabwe hart für die Vorbereitung dieses Ereignisses gearbeitet haben, sagen wir Dank für ihren Einsatz und für die Gastfreundschaft, die wir geniessen.

Eine Jubiläumsvollversammlung

2. Alle Vollversammlungen des Ökumenischen Rates der Kirchen waren bedeutsame Ereignisse, die über den inneren Kreis der christlichen Kirchen hinaus Aufmerksamkeit auf sich zogen. Dies gilt in besonderer Weise für diese Achte Vollversammlung. Wir kommen zusammen im fünfzigsten Jahr nach der Gründungsvollversammlung des Ökumenischen Rates in Amsterdam 1948. Während des Jahres 1998 ist dieses "ökumenische Jubiläum" in vielen Kirchen um die ganze Welt herum begangen und gefeiert worden. Besondere Veranstaltungen haben in Genf stattgefunden; in Amsterdam, Evanston, Neu-Delhi, Uppsala, Nairobi - den Orten früherer Vollversammlungen; in Toronto, Berlin, Buenos Aires, Johannesburg - Städten, in denen wichtige Tagungen des Zentralausschusses stattfanden; und an vielen anderen Orten. Ja, Hunderttausende von Christen und Christinnen über die ganze Welt hinweg haben so etwas wie eine Gebetskette auf dem Weg nach Harare gebildet. Nun sind wir hier, um den Bundesschluss zu erneuern, den die Delegierten bei der Ersten Vollversamm-lung durch die Gründung des Ökumenischen Rates vollzogen haben, und uns in Gemeinschaft miteinander erneut zu verpflichten, "zu erfüllen..., wozu (wir) berufen sind, zur Ehre Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes".

3. Die Gründung des ÖRK vor fünfzig Jahren war ein Akt des Glaubens. Die Welt war auf der Suche nach einer neuen Ordnung nach den Verwüstungen, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte, und sie befand sich zugleich unter dem Schatten erneuter Auseinandersetzungen am Beginn des Kalten Krieges mit seiner atomaren Bedrohung. Die Kirchen, die in ihrem Kirchesein und ihrer Glaubens-kraft auf die Probe gestellt worden waren, sahen sich vor eine gewaltige Aufgabe des Wiederaufbaus und der Versöhnung gestellt. In einem "Aufruf an die Kirchen zur Ersten Vollversammlung", der vom Vorläufigen Ausschuss des ÖRK im April 1947 erlassen wurde, wurden alle Christen und Christinnen eingeladen, aufrichtig dafür zu beten, "dass die Erste Vollversammlung... von Gott gebraucht werden möge für eine Wiedergeburt der Kirchen und dafür, dass sie in der Einheit des Glaubens sich erneut der gemeinsamen Aufgabe widmen, sein Wort zu verkünden und sein Werk unter den Nationen voranzutreiben." Es gab kein Modell für die Bildung eines Rates von Kirchen über nationale und konfessionelle Grenzen hinweg, und niemand wusste, ob sich der neue Rahmen bewähren würde. In seinem Bericht an die Vollversammlung beschrieb der Generalsekretär, Dr. Willem Adolf Visser t Hooft, die Funktion des Rates mit den folgenden Worten: "Wir sind ein Rat von Kirchen und nicht der Rat der einen ungeteilten Kirche. Unser Name zeigt unsere Schwäche und unsere Beschämung vor Gott an; denn es kann nur eine Kirche Christi auf Erden geben, und letzten Endes gibt es sie... Unser Rat stellt deshalb eine Notlösung dar, eine Strecke auf dem Weg, eine Körperschaft, die zwischen der Zeit der vollständigen Isolierung der Kirchen und der Zeit - auf Erden oder im Himmel - lebt, in der es sichtbar werden wird, dass es nur eine Herde und einen Hirten gibt."

4. Das Thema der Ersten Vollversammlung, "Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan", spielte auf die Doxologie am Anfang des Epheserbriefes an: "Denn Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens nach seinem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte, um ihn auszuführen, wenn die Zeit erfüllt wäre, dass alles zusammengefasst würde in Christus, was im Himmel und auf Erden ist" (Eph. 1,9-10). Nur im Licht dieses Heilsplanes Gottes in Christus ist es möglich - wie es Karl Barth der Vollversammlung in Erinnerung rief - ehrlich und ohne sich selbst zu rechtfertigen die tieferen Ursachen der Unordnung der Welt und der Mitverantwortung der Kirchen aufzudecken und anzusprechen. Und die Gründung des Ökumenischen Rates muss als ein Akt der Treue und des Gehorsams gegenüber dem Willen Gottes, wie er in Christus offenbar geworden ist, verstanden werden. Die Botschaft von Amsterdam brachte diese Überzeugung im ersten Absatz zum Ausdruck: "Wir preisen Gott den Vater und unsern Heiland Jesus Christus, der die verstreuten Kinder Gottes sammelt und uns hier in Amsterdam zusammengeführt hat. Wir sind darin einig, dass wir ihn als Gott und Heiland anerkennen. Wir sind voneinander getrennt, nicht nur in Fragen der Lehre, der Ordnung und der Überlieferung, sondern auch durch unseren sündigen Stolz: National-stolz, Klassenstolz, Rassenstolz. Aber Christus hat uns zu Seinem Eigentum gemacht und in Ihm ist keine Zertrennung. Wo wir Ihn finden, finden wir einander. Hier in Amsterdam haben wir uns von Ihm und damit voneinander aufs neue in Pflicht nehmen lassen, und deshalb haben wir diesen Ökumenischen Rat gebildet. Wir haben den festen Willen, beieinander zu bleiben. Wir rufen alle christlichen Gemeinden allenthalben auf, diesen Zusammenschluss zu bejahen und ihn auch in ihrem Leben miteinander Wirklichkeit werden zu lassen. So danken wir Gott für seine freundliche Führung und befehlen Ihm getrost die Zukunft."

5. Fünfzig Jahre danach hält dieser Zusammenschluss noch immer. Vieles hat sich in den Beziehungen der Kirchen untereinander geändert. Fremde sind zu Nachbarn geworden, und die mit Misstrauen Betrachteten wurden zu Freunden. Die Einsicht wächst, dass alle Kirchen, ungeachtet dessen, was sie noch immer trennt, zu der einen Grossfamilie der Kinder Gottes gehören. Aus einer Gemeinschaft vor allem von historischen protestantischen und orthodoxen Kirchen in Europa und Nordamerika hat sich der Rat zu einer wirklich weltweiten Grösse entwickelt. Er hat das gemeinsame Zeugnis und den Dienst der Kirchen befördert, und heute sind Kirchen überall in der Welt untereinander durch ein vielfältiges ökumenisches Netz von Partnerschaften miteinander verbunden. Die Herausforderung, Gerechtigkeit und Menschenwürde zu verteidigen und sowohl "das priesterliche Amt der Versöhnung" als auch "das prophetische Amt des befreienden Konflikts" (M.M. Thomas) wahrzunehmen, hat die Gemeinschaft hin und wieder auf die Probe gestellt - und der Rat hat diese Probe nicht immer völlig überzeugend bestanden. Jedenfalls ist die Amsterdamer Selbstverpflichtung "wir haben den festen Willen, beieinander zu bleiben" niemals zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Daher können und sollten wir Gott danken dafür, dass er den Kirchen nicht allein ermöglicht hat, beieinander zu bleiben, sondern auch voranzugehen und zusammenzuwachsen.

6. Aber - während wir hier das 50. Jubiläum begehen und feiern, machen sich Zeichen von Ungewissheit über den Auftrag der Gemeinschaft von Kirchen im Ökumenischen Rat bemerkbar und Zweifel über die Zukunft der ökumenischen Bewegung im ganzen. Wir scheinen an einem Scheideweg angelangt zu sein. Unterschiedliche Verständnisse der ökumenischen Aufgabe werden vertreten, und der weitere Weg ist nicht klar erkennbar. Es gibt Enttäuschung darüber, dass die intensive Suche nach der sichtbaren Einheit der Kirche noch immer nicht den Weg zu voller Gemeinschaft eröffnet hat. Das Verständnis von christlicher Mission in einer Welt religiöser und kultureller Pluralität ist umstritten. Die Tradition ökumenischer Sozialethik ist immer stärkerer Belastung ausgesetzt bei dem Versuch, auf die Auswirkungen des rasanten Prozesses der Globalisierung auf das Leben menschlicher Gesellschaften zu antworten. Das bevorstehende Ende des Jahrtausends verstärkt das Gefühl, dass die ökumenischen Ungewissheiten nur Teil eines umfassenderen Prozesses des Übergangs zu einer neuen historischen Epoche sind, die sich stark von den Bedingungen unterscheiden wird, die vorherrschten, als der Ökumenische Rat gegründet wurde. Viele der Kirchen, die das Leben und Zeugnis des ÖRK während dieser letzten Jahrzehnte geprägt haben, sehen sich heute internen Herausforderungen gegenübergestellt und neigen dazu, sich auf die Bewahrung ihrer eigenen Integrität zu konzentrieren. Gleichzeitig gibt es an vielen Stellen eine lebendige lokale Ökumene. Eindrückliche Prozesse der Erneuerung und des Wachstums christlichen Gemeindelebens und Zeugnisses vollziehen sich ausserhalb der Gemeinschaft des ÖRK. Was heisst all das für die Zukunft des Rates?

Ein ökumenisches Jubeljahr

7. Als der ÖRK vor mehr als vier Jahren beschloss, die Einladung der Kirchen in Simbabwe zur Durchführung der Achten Vollversammlung in Harare anzunehmen, statt der Einladung der niederländischen Kirchen zur Rückkehr nach Amsterdam zu folgen, wollte er ein Signal setzen. Es war das Signal, dass die Jubiläumsvollversammlung nicht so sehr eine Gelegenheit sein sollte, Rückschau zu halten und diese Jahrzehnte mit all den tiefgreifenden Veränderungen, welche sie für die Welt, die Kirchen und den Rat gebracht haben, in Erinnerung zu rufen, sondern vielmehr ein Anlass, sich darum zu bemühen, die heutigen Herausforderungen in den Blick zu nehmen, denen sich die ökumenische Bewegung gegenübersieht, und nach vorne zu blicken in das 21. Jahrhundert hinein. Die Zukunft der Christenheit und der ökumenischen Bewegung wird sich wahrscheinlich eher in Regionen wie Afrika und Lateinamerika entscheiden als in den nördlichen Regionen des historischen Christentums. In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts wird Afrika vermutlich der Kontinent mit der grössten christlichen Bevölkerung sein. Gleichzeitig ist Afrika die Region, in der die Unordnung des gegenwärtigen globalen Systems und die Marginalisierung und Auflösung ganzer Gesellschaften am dramatischsten zu Tage treten. Die Periode der Befreiungskämpfe in Afrika in den 70er Jahren war verknüpft mit einer der konfliktreichsten Phasen in der Geschichte des ÖRK. Die Erinnerung an die Krise, die 1978 durch den Zuschuss an die Patriotische Front von Simbabwe/Rhodesien ausgelöst wurde, ist noch immer lebendig. Die Entscheidung, für die Achte Vollversammlung nach Harare zu gehen, brachte unsere Entschlossenheit zum Ausdruck, dass die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen in ihrer Solidarität mit den afrikanischen Kirchen und Völkern nicht nachlassen werde, die heute nach einer neuen Grundlage suchen, um ihre Identität wiederzugewinnen und tragfähige Formen des Zusammenlebens aufzubauen. In einer Erklärung mit "Leitlinien für die Arbeit des ÖRK in Afrika" stellte der Exekutivausschuss des ÖRK im Februar 1995 fest: "Während afrikanische Kirchen und Völker sich darum bemühen, eine neue soziale und politische Kultur zu gestalten, ist die ökumenische Bewegung herausgefordert, die Hoffnung und Vision für ein tragfähiges menschliches Zusammenleben aller afrikanischen Völker lebendig zu erhalten." Das bedeutet, dass unsere Vollversammlung hier in Harare sehr aufmerksam darauf achten muss, was Gott uns heute durch Afrika sagen will.

8. Das Thema der Vollversammlung ist auf diesem Hintergrund formuliert worden: "Kehrt um zu Gott - seid fröhlich in Hoffnung". In einer Situation zunehmender Unordnung und Resignation erneuern diese Worte das Zeugnis von der Treue Gottes, wie es im Thema der Vollversammlung von Amsterdam zum Ausdruck kommt. Der Gott, zu dem wir umkehren sollen, ist nicht der unnahbare Lenker und Richter des menschlichen Schicksals, sondern der Gott des Bundes mit Noah, Abraham und Mose, der sich uns in Jesus Christus zugewandt hat und uns Versöhnung und die Fülle des Lebens für alle angeboten hat. "Kehrt um zu Gott" ist die Einladung, auf Gottes Treue zu vertrauen mitten in all der Verwirrung und den Ungewissheiten der Gegenwart. Gottes liebesvolles Angesicht zu entdecken, das uns im gekreuzigten und auferstandenen Christus zugewandt ist, das eigene Leben auf dem Vertrauen in Gottes Treue aufzubauen - das ist es, was das Neue Testament metanoia nennt in dem doppelten Sinn der Übernahme einer festen Verpflichtung und der Abwendung von falschen Loyalitäten.

9. In seinem Brief an die Römer beschreibt der Apostel Paulus sehr lebendig diesen Vorgang der Neuorientierung: "Ich ermahne euch nun, liebe Brüder (und Schwestern), durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht (den Massstäben) dieser Welt gleich, sondert ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene" (Röm. 12,1-2). Paulus fährt dann fort und erläutert, dass diese Umwandlung nicht nur eine innerliche persönliche Erfahrung ist, sondern in der Erneuerung des Lebens in der Gemeinschaft zum Ausdruck kommt. Unter Verwendung des Bildes vom Leib und seinen verschiedenen Gliedern zeichnet Paulus ein Profil der christlichen Gemeinde, die aus der Hinwendung zu Gott heraus lebt. Unter den vielen Einladungen und Aufforderungen findet sich auch der zweite Teil unseres Themas: "Seid fröhlich in Hoffnung" (Röm. 12,12). Es war diese Botschaft der Hoffnung, die die Vollversammlung nach dem Willen des Zentralausschusses verkündigen sollte, womit indirekt das Thema der Zweiten Vollversammlung in Evanston 1954: "Christus - die Hoffnung der Welt" wieder aufgenommen wird. Verständlicherweise fragten manche, ob die Einladung "seid fröhlich in Hoffnung" angemessen sei angesichts der gegenwärtigen Situation in Afrika und in der Welt im ganzen. Aber wie die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung in ihrer "Gemeinsamen Rechenschaft von der Hoffnung" in Bangalore 1978 bezeugte: "Die christliche Hoffnung ist eine Widerstandsbewegung gegen den Fatalismus." Und die Plenarsitzung heute morgen zum Vollversammlungsthema hat bereits das eindrückliche Hoffnungszeugnis in der Doxologie am Anfang des ersten Petrusbriefes in Erinnerung gerufen: "Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner grossen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten... Dann werdet ihr euch freuen, die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es sein soll, traurig seid in mancherlei Anfechtungen, damit euer Glaube als echt... befunden werde... zu Lob, Preis und Ehre, wenn offenbart wird Jesus Christus" (1. Petrus 1,3-7).

10. Wir sind versammelt, um ein "ökumenisches Jubeljahr" zu feiern. Das Thema der Vollversamm-lung wurde gewählt, um den Geist des Jubel- oder Erlassjahres aufzunehmen, das in der Tat eines der stärksten Hoffnungsbilder in der biblischen Tradition ist. Jesus hat dies in seiner Antrittspredigt in Nazareth bekräftig. Aufgrund eines Abschnitts aus dem Buch des Propheten Jesaja verkündete er ein "Gnadenjahr des Herrn", ein Jahr der Vergebung und der Befreiung (Lukas 4,19). Die Ausrufung des Jubel- oder Erlassjahres ist Teil des Heiligkeitsgesetzes im Buch Levitikus (Lev. 25). Nach sieben Perioden von Sabbatjahren sollte das 50. Jahr als ein Jubel- oder Erlassjahr begangen werden. Nach durchschnittlich sieben mal sieben Jahren zwischen Vollversammlungen befinden wir uns nun im 50. Jahr des ÖRK, d.h. in einem ökumenischen Jubeljahr. Was könnte es bedeuten, von einem "ökumenischen Jubeljahr" zu sprechen? Zahlreiche ökumenische Initiativen, die zum Erlass der internationalen Schulden der ärmsten Länder der Welt bis zum Jahr 2000 aufrufen, haben sich durch die biblische Botschaft vom Erlassjahr inspirieren lassen. Das ist gut begründet, denn der Schuldenerlass spielt eine wichtige Rolle in der Tradition des biblischen Erlassjahres; und das Problem der internationalen Verschuldung steht auch auf der Tagesordnung unserer Vollversamm-lung. Aber die Botschaft des biblischen Jubel- oder Erlassjahres erschöpft sich nicht in der Behandlung eines dringenden Problems sozialer, wirtschaftlicher und politischer Gerechtigkeit.

11. Historisch muss das Jubel- oder Erlassjahr als eine Weiterentwicklung und neue Auslegung der älteren Tradition des Sabbatjahres verstanden werden. Während des Sabbatjahres sollte das Land nicht bebaut werden, um dem Acker, den Tieren und den Arbeitern völlige Ruhe und Erholung zu gewähren. Darüber hinaus sollten alle Sklaven freigelassen und die Schulden getilgt werden. All dies wird in die Ordnung des Jubel- oder Erlassjahres integriert; aber das Erlassjahr geht darüber hinaus. Denn in diesem Jahr sollten alle wieder in den vollen Genuss ihres angestammten Familienbesitzes kommen. Im Zusammenhang der Neubegründung der Gemeinschaft nach der Rückkehr aus dem Exil in Babylon sollte das Erlassjahr allen Mitgliedern der Volksgemeinschaft und allen Familien die Grundlage für ein menschenwürdiges Leben gewährleisten. In Levitikus 25,8-9 lesen wir ausserdem, dass das Jubel- oder Erlassjahr am grossen Versöhnungstag mit dem Schall der Posaune eröffnet werden soll, d.h. an dem Tag, an dem die Juden um Befreiung und Vergebung aller Sünden und um Versöhnung mit Gott und untereinander bitten. Die Botschaft des Erlassjahres ist daher zuerst eine Botschaft der Versöhnung. Sie verlängert den befreienden Akt der Versöhnung in ein ganzes Jahr hinein. Nimmt man die Mandate des Erlassjahres zusammen, so beschreiben sie die zentralen Elemente der Bundesordnung Israels. Periodisch sollten die unvermeidlich auftretende Ungerechtig-keit, Ausgrenzung und Versklavung als Folge der Verzerrung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Strukturen korrigiert werden. Das Erlassjahr sollte den Teufelskreis von Herrschaft und Abhängigkeit durchbrechen, indem es Versöhnung und Befreiung verkündete und zu einer Selbstbegrenzung der Ausübung von Macht aufforderte. Diejenigen, in deren Händen die Kontrolle über die entscheidenden wirtschaftlichen Produktionsfaktoren lag - Boden, Arbeit und Kapital - sollten ihre Machtausübung begrenzen oder aufgeben und so Raum schaffen, um denen, die ohnmächtig und ausgeschlossen waren, die Grundlage für ein menschenwürdiges Leben zurückzu-geben. Sie sollten die gleiche Grosszügigkeit und Gerechtigkeit beweisen wie Gott mit dem Angebot der bedingungslosen Versöhnung.

12. Jesus fasst seine Auslegung der Botschaft des Jubel- oder Erlassjahres in den Worten zusammen: "Heute ist dieses Schriftwort erfüllt vor euren Ohren" (Lukas 4,21). In Jesus hat sich Gottes Angebot der Versöhnung, die Verkündigung des endgültigen Erlassjahres im Reich Gottes, erfüllt. In seinem Leben und Sterben hat er uns das Vorbild gegeben: Er entledigte sich seiner Macht und verzichtete darauf, Gott gleich zu sein. Er wurde Mensch wie wir, um in unserer menschlichen Welt und Geschichte den Raum zu öffnen für Versöhnung, so dass wir die herrliche Freiheit der Kinder Gottes erfahren können. Wenn dies die Botschaft des Erlassjahres ist, dann ist ein ökumenisches Jubeljahr in der Tat ein Grund zu Freude und Hoffnung, auch für die ökumenische Bewegung. Seit dem Anfang dieses Jahrhunderts haben die christlichen Kirchen nach Wegen gesucht, um die Einheit und Gemeinschaft des Gottesvolkes wiederherzustellen in Antwort auf das Gebet unseres Herrn, dass sie alle eins seien. Sie haben sich darum bemüht, die verzerrten Beziehungen innerhalb des verstreuten Gottesvolkes zu korrigieren und zurechtzubringen und so wechselseitige Verurteilungen, Ausschluss, Feindschaft und Vorurteile zu überwinden. Dabei geht es nicht zuletzt auch um die Überwindung und Begrenzung von kirchlicher Macht und den Anspruch, die Mittel des Heils, den Zugang zum Leben in seiner Fülle zu kontrollieren.

13. Das ökumenische Jubeljahr ist daher zunächst ein Aufruf zur Umkehr, zur Busse und zur kritischen Selbsteinschätzung, die der aufgehäuften Schuld und Mitverantwortung für die Spaltung des Leibes Christi nicht ausweicht. Kehrt um zu Gott - dies ist die Einladung an alle Kirchen, ihre Abwehrhaltungen und Selbstgerechtigkeit zu überwinden und sich der Quelle und dem Zentrum ihrer Einheit zuzuwenden: Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Zweitens ist das ökumenische Jubeljahr eine Einladung dazu, Gottes Angebot der Versöhnung zu feiern und die Einheit zu bezeugen, die durch das Handeln des Heiligen Geistes in der ökumenischen Bewegung wieder-entdeckt und wiedergewonnen worden ist. Heute können wir sagen: Was uns vereint, ist stärker, als was uns noch trennt. Wir erkennen einander wieder als Verwandte, als unterschiedliche und doch miteinander verbundene Glieder der Familie Gottes an. Drittens ist das ökumenische Jubeljahr eine Botschaft der Hoffnung, nicht allein für die christliche Gemeinde, sondern auch für die Welt am Vorabend eines neuen Jahrhunderts und Jahrtausends. In einer Welt, die gefangen ist in den Kräften von Konkurrenz, Herrschaft und Ausgrenzung, gibt es Hoffnung, weil der Weg zu Versöhnung und tragfähigem Leben in Gemeinschaft in Jesus Christus eröffnet worden ist. In seiner Gegenwart und durch seine Vollmacht, zu heilen und Ganzheit herzustellen, wird uns Befreiung und Vergebung gewährt. Im Geist des ökumenischen Jubel- oder Erlassjahres sind wir aufgerufen dazu, Gemein-schaften der Hoffnung zu werden, die der Spur dessen folgen, der seinen Anspruch auf Macht aufgab, der sein Leben teilte und hingab und so für uns den Raum eröffnet, um die Fülle des Lebens zu erfahren, der die Fremden, die Ausgeschlossenen, die Entrechteten und Armen annahm und ihnen ihre Würde als volle Glieder der Gemeinschaft zurückgab. Der Weg Jesu Christi ist unsere ökumenische Berufung am Vorabend des 21. Jahrhunderts.

Ökumenischen Raum eröffnen

14. Aber sind wir bereit, dieses ökumenische Erlassjahr zu feiern? Sind wir bereit, zu Gott umzukehren, Gottes Gabe der Versöhnung zu empfangen und uns so aus den institutionellen Gefangenschaften befreien zu lassen, die uns daran hindern, sichtbar die Gemeinschaft zu leben, die wir als Gottes Gabe in Jesus Christus bezeugen? Die Ordnung des Erlassjahres hatte das Ziel, dem jüdischen Volk nach dem Ende der babylonischen Gefangenschaft als Richtlinie zu dienen für den neuen Aufbau einer lebensfähigen Gemeinschaft. Welche Anregung und Orientierung vermittelt uns die Tradition des Erlassjahres bei der Bemühung, Gemeinschaft unter den getrennten Kirchen wiederherzustellen? Was ist in diesem Rahmen der Ort und die Aufgabe des Ökumenischen Rates? Ist er nicht ebenfalls ein Opfer institutioneller Gefangenschaft geworden, so dass er selbst Befreiung braucht? Ist er noch immer ein Instrument der ökumenischen Bewegung der Kirchen auf ihrem gemeinsamen Weg, oder ist er zu einer unabhängigen Institution geworden, die ihre eigenen Ziele verfolgt? Wie kann der Ökumenische Rat den Raum eröffnen und schaffen, der das Wachsen von Gemeinschaft ermöglicht und Versöhnung geschehen lässt?

15. Eines der wichtigsten Vermächtnisse der Vollversammlung in Canberra für den neuen Zentralausschuss war das bereits 1989 begonnene Nachdenken über ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Vision des Ökumenischen Rates. Der Zentralausschuss setzte diesen Prozess fort und beschloss 1995, ihn auf die Achte Vollversammlung hin auszurichten. Die Ergebnisse dieser Bemühungen liegen dieser Vollversammlung vor in Gestalt einer Grundsatzerklärung, die vom Zentralausschuss bei seiner letzten Sitzung im September 1997 angenommen wurde. Vorschläge von vielen Mitgliedskirchen haben dieses Dokument, das im Arbeitsbuch für die Vollversammlung abgedruckt ist, bereichert und sind eingearbeitet worden. In seiner gegenwärtigen Form beansprucht der Text nicht mehr zu sein - aber auch nicht weniger - als eine aufrichtige Rechenschaft von Seiten des Zentralausschusses als dem obersten Leitungsorgan zwischen zwei Vollversammlungen über die Berufung des Ökumenischen Rates im gegenwärtigen Stadium der Entwicklung der ökumenischen Bewegung. Als die Vollversammlungsdelegierten der Mitgliedskirchen sind Sie nun eingeladen, auf diese Einschätzung von Verständnis und Aufgabe des Ökumenischen Rates zu antworten und die Linien für die weitere Arbeit des Rates auszuziehen.

16. Beim Lesen des Dokumentes werden Sie bemerkt haben, dass der Text nicht etwa ein völlig neues Verständnis des Ökumenischen Rates anbietet. Er versucht vielmehr, eine gegenwärtige Interpretation der Selbstdefinition des Rates vorzulegen, die in der Basisformel und den anderen grundlegenden Texten, wie z.B. der Toronto-Erklärung von 1950, enthalten ist. Im Zentrum dieser frühen Beschreibungen des Rates stand seine Kennzeichnung als "Gemeinschaft von Kirchen". Der Begriff "Gemeinschaft" lässt sich natürlich unterschiedlich interpretieren; aber sein Gebrauch in der Basisformel scheint eindeutig nahezulegen, "dass der Rat mehr ist als ein rein funktioneller Zusammenschluss von Kirchen mit dem Ziel, Aktivitäten in Bereichen von gemeinsamem Interesse zu organisieren" (CUV Abs. 3.2). Die Grundsatzerklärung ist sich im klaren darüber, dass die Existenz des Ökumenischen Rates der Kirchen als einer Gemeinschaft von Kirchen die Mitglieds-kirchen vor eine "ekklesiologische Herausforderung" stellt, und sie versucht in einer Reihe von Aussagen, die Bedeutung und Reichweite der Gemeinschaft zu klären, welche die Kirchen im Ökumenischen Rat erfahren. In mancher Hinsicht nehmen diese Aussagen auf, was ich zuvor über ein "ökumenisches Jubel- oder Erlassjahr" gesagt habe. Die Gemeinschaft ist nicht das Ergebnis einer Willensentscheidung auf Seiten der Kirchen. Sie hat ihr Zentrum in der gemeinsamen Hingabe an Christus. Indem die Kirchen sich gemeinsam hinwenden zu Gott in Christus, entdecken sie ihre Gemeinschaft untereinander. Die Gemeinschaft ist daher nicht nur eine institutionelle Übereinkunft zwischen organisierten kirchlichen Körperschaften und ihren verantwortlichen Leitern. "Sie ist vielmehr eine dynamische, durch wechselseitige Beziehungen geprägte Wirklichkeit, die sich auf das ganze Leben der Kirchen als Verkörperungen des Gottesvolkes erstreckt. Sie ist kein Selbstzweck, sondern existiert, um als Zeichen und Werkzeug von Gottes Mission und Handeln in der Welt zu dienen. Der ÖRK kann daher als eine missionarische, diakonische und ethische Gemeinschaft von Kirchen beschrieben werden" (3.5.3). Die Bedeutung dieser Gemeinschaft liegt gerade darin, dass sie den Raum eröffnet, wo Versöhnung und gegenseitige Rechenschaft Gestalt annehmen und wo die Kirchen miteinander lernen können, sich auf den Weg einer "teuren" ökumenischen Verpflichtung zu begeben: d.h., "sie wissen sich miteinander solidarisch, stehen einander in der Not bei, enthalten sich solcher Handlungen, die zu ihren brüderlichen und schwesterlichen Beziehungen in Widerspruch stehen würden, treten in ein geistliches Verhältnis miteinander ein, um voneinander zu lernen, und bemühen sich im Gespräch miteinander darum, von dem Herrn Jesus Christus zu lernen, wie sie Seinen Namen vor der Welt bezeugen sollen' (Toronto)" (3.5.6).

17. Dieses, auf seinen Beziehungscharakter ausgerichtete Verständnis des Rates als einer Gemeinschaft von Kirchen stellt die Frage nach seinen Strukturen und seinem institutionellen Profil in einen weiteren und theologisch angemesseneren Rahmen hinein. Es entspricht zugleich den Aussagen der Fünften Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Santiago de Compostela (1993) über "Das Verständnis der Koinonia und ihrer Implikationen" (Bericht der Sektion I). Ausgehend vom Nachdenken über Koinonia sowohl als Gottes Gabe wie als Berufung für die Kirchen, gebraucht der Bericht das Bild des Pilgerweges als Ausdruck für Metanoia und Umkehr. Die ständige Bewegung der Metanoia bringt anschaulich den Charakter der Kirche als einer Beziehungswirklichkeit zum Ausdruck. In Beziehung zu leben heisst, bereit zu sein, sich der Andersartigkeit der anderen auszusetzen, zuzulassen, dass man selbst durch die Begegnung verändert wird. Es bedeutet auch, die Befürchtungen und Ängste, die jede solche Begegnung in uns auslöst, anzunehmen. Diese Interpretation wirft ein neues Licht auf das, was ich früher über die Einladung "Kehrt um zu Gott" als einen Ruf zur Metanoia gesagt habe und über das "ökumenische Jubel- oder Erlassjahr" als einen Aufruf zur Selbstbegrenzung von Macht. "Die Begegnung mit den anderen bei dem Bemühen um Verwirklichung von Koinonia, die in Gottes Gabe gründet, erfordert Kenosis - eine Selbsthingabe und Selbstentäusserung. Diese Kenosis weckt Angst vor Identitäts-verlust und lässt uns verletzlich sein, doch dies ist nichts anderes als Treue gegenüber Jesu Dienst der Verletzlichkeit und des Todes, mit dem er danach trachtete, Menschen in die Gemeinschaft mit Gott und miteinander zu führen. Er ist Modell und Muster für die Versöhnung, die zur Koinonia führt. Als einzelne und als Gemeinschaften sind wir berufen, Koinonia durch den Dienst der Kenosis zu errichten" (Santiago, Sektion I, Abs. 20).

18. Wenn wir den Ökumenischen Rat als eine Gemeinschaft im Licht des dynamischen, am Bild des Pilgerwegs ausgerichteten Charakters der Gemeinschaft betrachten, welche die Kirchen im Rat zu verwirklichen suchen, dann werden wir uns bewusst, dass diese Verpflichtung zur Gemeinschaft in der Tat ihren Preis fordert. Wo immer die Kirchen ihre gemeinsame Berufung zu erfüllen trachten, muss diese Verpflichtung fortwährend gepflegt und neu belebt werden. Dies ist vor allem dort wichtig, wo die Kirchen herausgefordert sind zu prophetischem Zeugnis und Dienst in der Welt. Die Studie des Ökumenischen Rates über "Ekklesiologie und Ethik" hat Einsichten weiterentwickelt, die vermittelt worden waren von der Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung, dem ökumenischen Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung sowie vorangegangenen Bemühungen, das Sein der Kirche zu verknüpfen mit ihrem Charakter als prophetischem Zeichen in der Welt. Diese Studie hat sich bemüht, das Ethos der Kirche als Gemeinschaft herauszuarbeiten, wie es sich in der Liturgie und speziell den Sakramenten der Taufe und der Eucharistie ausdrückt. Sie hat den Prozessen der geistlichen und moralischen Prägung und der Bildung von Urteilskraft, durch welche Gemeinschaft gebildet und neu begründet wird, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Daraus entwickelte sich die Überlegung, dass die Oikoumene verstanden werden könne als ein "Kraftfeld" wechselseitiger Resonanz und wechselseitigen Wiedererkennens durch die Kraft des Heiligen Geistes. "Indem wir Resonanz und Wiedererkennen als unsere Metaphern wählen, können wir eine biblische Formulierung in den johannäischen Schriften aufnehmen... Die Schafe hören die Stimme des Hirten' (Joh. 10,3; vgl. Off. 3,20)... Nachfolge heisst, die Stimme zu hören, von ihr angezogen und durch sie geprägt zu werden: nicht nur durch den Klang, sondern auch den Inhalt, durch die unverwechselbare Art des Sprechens, die eine bestimmte Art des Lebens in der Welt bezeugt, jedoch eine Art, die viele unterschiedliche Formen kennt... Der Bezugspunkt des ökumenischen Wiedererkennens und der Anerkennung ist, dass die andere Gemeinschaft eine aktive Verpflichtung hat, die der eigenen analog ist, und dass die eigene Verpflichtung der anderen entspricht. Diese Entsprechung kommt zustande, weil es ein gemein-sames, von wechselseitiger Anerkennung getragenes Muster ethischer Praxis im Heiligen Geist gibt. Die Menschen... erkennen, dass andere den gleichen Geist haben'... Diese Anerkennung ist etwas Ganzheitliches, sie ist niemals nur auf Lehre oder Kirchenordnung ausgerichtet, sondern umfasst immer Elemente von beidem, der Lehre und der Kirchenordnung. Sie ist Wiedererkennen und Anerkennung einer gelebten Wirklichkeit: des Bewusstseins einer moralisch-ethischen Gemeinschaft. Das ist es, was Oikoumene bedeutet" (Costly Obedience, Abs. 90f.).

19. Dieses Studiendokument fährt dann fort und interpretiert den ÖRK als den "Raum", der die Möglichkeit einer solchen Gemeinschaft des wechselseitigen Wiedererkennens und der Resonanz kennzeichnet. Auch wenn der ÖRK nicht selbst jene moralisch-ethische Gemeinschaft ist, "so ist er doch eine Gemeinschaft von Kirchen, die darum beten, die geistlichen Gaben zu empfangen, welche für eine solche Gemeinschaft im moralisch-ethischen Zeugnis nötig sind" (Abs. 99). "Der ÖRK sollte den Raum kennzeichnen und erhalten, ja selbst der Raum sein, wo die kirchlich-moralische Gemeinschaft... zum Ausdruck kommen kann, wo fortwährend die Sprache gesucht wird, um diese Wirklichkeit angemessener zum Ausdruck zu bringen, wo gemeinsame Aktionen vorbereitet werden, die das notwendige ethisch-moralische Zeugnis verkörpern, und wo eine ökumenische Bildung stattfindet, die der Gemeinschaft wachsende Dichte und zunehmende Fülle gibt" (Abs. 102). Dieses Verständnis des ÖRK hat das Programm zu einer Theologie des Lebens angeregt, welches die zehn Grundüberzeugungen der Weltversammlung in Seoul über Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung (1990) weiter entfaltete als "eine vorläufige Kennzeichnung des Rahmens und des Raumes, in welchem Menschen Gewissheit und Vertrauen entwickeln können. Die Grundüberzeugungen sind keine Bekenntnisaussagen und auch keine Kriterien zur Verurteilung von häretischen Positionen. Sie können vielmehr verstanden werden als Massstäbe für wechselseitige Rechenschaft, als regulative Ideen für die Interpretationskonflikte im ökumenischen Dialog und für die Zusammenarbeit in radikal verschiedenen Kontexten" (M. Robra in ER 1996/1,35). Die Sokoni-Konferenz in Nairobi im Januar 1997, die nach dem Modell eines afrikanischen Dorfmarktes organisiert wurde, der einer Gemeinschaft als ein Ort der Kommunikation und des Austausches dient, bot eine handgreifliche Erfahrung dieses ökumenischen Raumes. Dies ist auch die Erwartung an den Padare, der ein offener und doch geschützter Raum in der Mitte dieser Vollversammlung ist.

20. Der Begriff des "ökumenischen Raumes" weitet daher unser Verständnis des ÖRK als einer Gemeinschaft von Kirchen aus. Diese Vorstellung ist nicht völlig neu, sondern sie taucht bereits in früheren ökumenischen Diskussionen über konziliare Gemeinschaft auf. Die Erklärung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung über "Die Konziliarität und die Zukunft der ökumenischen Bewegung" (1971) stellte fest: "...dass die Einheit der Kirche, wenn sie der Einheit der Menschheit dienen soll, Raum bieten muss für eine grosse Vielfalt von Formen, wie auch für Unterschiede und sogar Konflikte... Die Einheit der Kirche muss von der Art sein, dass sie reichlich Raum bietet für Verschiedenheit und für die offene gegenseitige Konfrontierung unterschiedlicher Interessen und Überzeugungen" (Löwen 1971, 227, Unterstreichung KR). Neuere Diskussionen im Rahmen von Glauben und Kirchenverfassung haben nahegelegt, dass die Vorstellung von "ökumenischem Raum" hilfreich sein könnte, um die Lehrgespräche über das Bischofsamt voranzubringen. "In Räumen mit offenen Türen leben" ist der Titel des Berichtes einer Konsultation, die 1995 von den verschiedenen Bildungsprogrammen des Ökumenischen Rates organisiert wurde, um pädagogische Leitbilder zu erkunden, die es Menschen ermöglichen, in offenen Räumen zu leben, Vielfalt zu akzeptieren, ihren Horizont zu erweitern und Hoffnung lebendig zu erhalten. Der Bericht verweist auf den Begriff der "Zivilgesellschaft" als Kennzeichnung eines Raumes, der im Unterschied zu den politischen und wirtschaftlichen Strukturen des Staates und des Marktes zum Aufbau wirklicher Gemeinschaft geeignet ist. Wir sollten ebenfalls darauf hinweisen, dass die "Ökumenische Dekade - Kirchen in Solidarität mit den Frauen" einen eindringlichen Ruf nach dem Raum formuliert hat, der notwendig ist, damit die Kirche zu einer wirklich alle einschliessenden Gemeinschaft werden kann. Schliesslich hat auch die ökumenische Diskussion über die Integrität der Schöpfung dazu geführt, die Erde wieder neu als den Raum anzuerkennen, den der Schöpfer für alle Lebewesen eröffnet, dass sie in dauerhaften Gemeinschaften zusammenleben können. Der siebte Tag der Schöpfung, der göttliche Sabbat, an dem Gott von allen Werken der Schöpfung ruhte, eröffnet den Raum, in dem Leben sich entfalten und wachsen kann. In Aufnahme rabbinischer Traditionen erklärt Larry Rasmussen, dass "der Sabbat und nicht die Herrschaft das Symbol für die angemessene Beziehung zwischen den Menschen und der übrigen Natur, zwischen der ganzen Schöpfung und dem Schöpfer ist. Ja, der Sabbat und nicht die Erschaffung der Menschen ist die Krone und die Vollendung der Schöpfungsgeschichte selbst..." (L. Rasmussen, Earth Community, Earth Ethics, Geneva 1996, 232). Im gleichen Sinn sollen auch das Sabbat- und das Erlassjahr den Raum bieten für die periodische Wiederbegründung des Lebens der Gemeinschaft.

21. All das erinnert uns an den prophetischen Aufruf: "Mache den Raum deines Zeltes weit und breite aus die Decken deiner Wohnung; spare nicht! Spann deine Seile lang und stecke deine Pflöcke fest!" (Jes. 54,2) Diese Worte könnten den Anstoss geben, um das Leben der Kirchen in der Gemeinschaft miteinander im Ökumenischen Rat neu zu beleben. Viele Kirchen ziehen sich heute jedoch unter dem Druck innerer und äusserer Herausforderungen hinter konfessionelle und institutionelle Verteidigungslinien zurück. Ökumenische Partnerschaften mit anderen Kirchen bleiben oft formal und führen selten zur Begegnung von Leben mit Leben. Im Zuge der Professionalisierung des ökumenischen Miteinanderteilens werden die Bindungen ökumenischer Solidarität schwächer. Manche nehmen den Ökumenischen Rat der Kirchen als eine funktionale Einrichtung wahr, deren Leistungsfähigkeit im Vergleich mit den vielen anderen spezialisierten internationalen Nichtregierungsorganisationen beurteilt werden muss. Andere haben das Gefühl, dass der Ökumenische Rat den Problemdruck auf die Kirchen verstärkt, indem er ihnen Positionen und programmatische Orientierungen zumutet, die mit ihren überkommenen kirchlichen Traditionen in Konflikt geraten. Auch die Interpretation des Rates als einer Gemeinschaft "wechselseitiger Rechenschaft" kann als eine solche Zumutung verstanden werden, welche die Integrität der Mitgliedskirchen nicht genügend respektiert. Auf diesem Hintergrund meine ich, dass die Vorstellungen des "Pilgerweges" und des "ökumenischen Raumes" unser Verständnis des Rates als einer Gemeinschaft von Kirchen ausweiten könnten. Angesichts der Ungewissheiten der gegenwärtigen Situation und der Versuchung, Identität defensiv oder exklusiv zu bestimmen, muss die ökumenische Bewegung das Bewusstsein des wandernden Gottesvolkes wiedergewinnen, d.h. der Kirchen auf dem Weg miteinander, die bereit sind, über die Grenzen ihrer eigenen Geschichte und Tradition hinauszugehen, miteinander auf die Stimme des einen Hirten zu hören, in Resonanz miteinander und wechselseitigem Erkennen zu leben als solche, die vom gleichen Geist getrieben sind. Der ÖRK als eine Gemeinschaft von Kirchen markiert den Raum, innerhalb dessen solche Begegnungen gewagt werden können, wo Gewissheit und Vertrauen aufgebaut werden und Gemeinschaft wachsen kann. Zur Zeit wird diese Überzeugung auf eine harte Probe gestellt durch Konflikte über moralisch-ethische Probleme, insbesondere der menschlichen Sexualität, und durch die ekklesiologischen und theologischen Herausforderungen, die mit der Ökumenischen Dekade Kirchen in Solidarität mit den Frauen verbunden sind. Mehr als jemals zuvor brauchen wir den ÖRK als einen ökumenischen Raum, der offen und zugleich umfangen ist von der Treue Gottes und geschützt durch das Band des Friedens, einen Raum wechselseitiger Annahme und wechselseitigen Verständnisses, wie auch der gegenseitigen Herausforderung und Korrektur.

22. Die Gemeinschaft der Kirchen im ÖRK ist nicht ein Selbstzweck. Sie soll als Zeichen und Instrument für Gottes Sendung in der Welt dienen. Wir haben "Gemeinschaft" mit Hilfe der Vorstellung vom ökumenischen Raum interpretiert, einem Raum, "in dem die Kirchen (gemeinsam) erforschen können, was es heisst, in Gemeinschaft miteinander auf dem Weg zu grösserer Einheit in Christus zu sein" (CUV Abs. 3.5.4). Damit wird freilich, für sich genommen, die Perspektive zwischenkirchlicher ökumenischer Beziehungen noch nicht überschritten. Der ökumenische Raum muss daher für die Fragen der Welt geöffnet werden. In seiner Analyse der Antworten der Kirchen auf den CUV-Prozess sagt Peter Lodberg: "Der Ökumenische Rat ist ein Zufluchtsort (sanctuary) in einer gespaltenen Welt" (in ER 1998/3, 276). Ein Zufluchtsort (sanctuary) ist ein Raum, wo die Fremden Schutz finden; er bietet Herberge für die, die kein Zuhause haben. Im Nachdenken über die heute weit verbreitete Suche nach Spiritualität und Sinn und dem schwer greifbaren Wiederaufleben von Religion kommt Lewis Mudge zu der Überzeugung, dass die christliche Gemeinschaft - und das heisst natürlich auch die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen - "nicht nur physische Gastfreund-schaft für die Fremden, sondern auch geistlich-spirituelle Gastfreundschaft bieten kann: einen Zufluchtsort (sanctuary) von Sinn für diejenigen, die aus vielen Gründen - intellektuellen, religiösen, politischen - nicht in der Lage sind, die Quelle dieses Sinnes zu bekennen" (L. Mudge, The Church as a Moral Community, Geneva 1998, 82). Manchmal haben die Kirchen in ihrer ökumenischen Gemeinschaft in der Tat der weiteren säkularen Gesellschaft den Raum angeboten, um tiefer über die moralischen und spirituellen Dimensionen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Versöhnung, Menschenrechten und Friedensförderung nachzudenken. Wie L. Mudge sagt: "Die Kirchen können und sollten in der Welt eine Art Raum von Metaphern für diejenigen, ob gläubig oder nicht, erschliessen, die glauben, dass die menschliche Gesellschaft ihre gewalttätigen Ursprünge, ihren fortwährenden Verdruss und ihr Misstrauen überwinden und zu der Einsicht gelangen kann, dass ihre wahre Bestimmung darin liegt, zu der geliebten Gemeinschaft zu werden, die in der biblischen Überlieferung vorgezeichnet ist. Die Kirchen existieren, um den Raum in der Gesellschaft offen zu halten, in welchem die jeweiligen Strukturen und Verhaltensweisen der Gesellschaft erkennbar werden in ihrem wahren Charakter und in dem die menschliche Gemeinschaft neu zum Ausdruck gebracht werden kann, einen Raum, in dem die Metaphern gemeinsamen Lebens auf ihren transzendenten Grund hin durchlässig gemacht werden können" (a.a.o. 112).

Jenseits von Mitgliedschaft?

23. Das CUV-Dokument betont das Verständnis des Ökumenischen Rates als einer "Gemeinschaft von Kirchen", die eine Struktur und Organisation hat, aber nicht mit dieser Struktur identifiziert werden darf. Dennoch hat sich - teilweise in Reaktion auf das CUV-Dokument selbst - eine neue Diskussion, gerade um die Frage des institutionellen Charakters des ÖRK als einer Organisation mit Mitgliedskirchen, entwickelt. In seiner Erläuterung dessen, was Mitgliedschaft in dieser Organisation bedeutet, bezieht sich das CUV-Dokument auf einen früheren Text, der 1996 vom Zentralausschuss entgegengenommen worden war (vgl. "The Meaning of Membership", in: Central Committee Minutes 1996, 184-187). Als ein Entwurf dieses Textes den Mitgliedskirchen zur Stellungnahme zugesandt worden war, hatten nur sehr wenige Kirchen reagiert. Im Rückblick ist klar, dass eine Erläuterung der Bedeutung von Mitgliedschaft, die ausgerichtet ist an der biblischen Vorstellung vom Leib - d.h. Kirchen, die als Glieder einer Gemeinschaft voneinander abhängig sind - nicht leicht in Einklang gebracht werden kann mit einer Vorstellung von Mitgliedschaft in einer Organisation. Viele Kirchen scheinen in erster Linie interessiert zu sein an Mitgliedschaft im Rat im Sinne von Partizipation, Repräsentation, Einfluss auf die Entscheidungen, und d.h. zusammengefasst an Mitbestimmung. Mitgliedschaft bringt in der Tat Rechte und Privilegien mit sich, aber sie enthält ebenso Verantwortungen und Verpflichtungen. Das CUV-Dokument spricht sehr viel ausführlicher über die Verantwortungen der Mitgliedschaft als über die Frage der Rechte der Beteiligung und Vertretung. Ein früherer Entwurf des CUV-Textes hatte einen Abschnitt über die institutionellen Folgerungen dieses Verständnisses des ÖRK enthalten, insbesondere im Blick auf die Leitungs-strukturen; der Zentralausschuss meinte jedoch, dass diese Vorschläge weiteren Nachdenkens bedürften und daher unabhängig von der Grundsatzerklärung behandelt werden sollten. Nun konzentriert sich die Diskussion genau auf diese Fragen.

24. Kritische Anfragen sind vor allem von den östlichen orthodoxen Kirchen formuliert worden. Bei einer Zusammenkunft in Saloniki im Frühjahr dieses Jahres haben Vertreter dieser Kirchen zu einer "radikalen Umstrukturierung" des Rates aufgerufen und den Eindruck erweckt, dass die Verwirklichung dieses Ziels eine Bedingung für ihre weitere Teilnahme am Leben und der Arbeit des ÖRK sei. Das Verständnis von "Mitgliedschaft" spielt in ihrer Argumentation eine zentrale Rolle. Mitgliedschaft im Rat orientiert sich zur Zeit an der institutionellen Identität von Kirchen als autonomen und in den meisten Fällen nationalen Körperschaften. Die Verfassung und Satzung des ÖRK lässt - im Einklang mit der Toronto-Erklärung von 1950 - die ekklesiologische Frage, was eine Kirche zur Kirche mache, offen. Eine potentielle Mitgliedskirche muss ihre Übereinstimmung mit der Basisformel erklären und ihre Autonomie sowie "ständige Unabhängigkeit ihres Lebens und ihrer Organisation nachweisen". Sie muss "die wesentliche Interdependenz der Kirchen, namentlich der Kirchen derselben Konfession, anerkennen und konstruktive ökumenische Beziehungen zu anderen Kirchen ihres Landes oder Gebietes pflegen". Über diese Kriterien hinaus muss eine potentielle Mitgliedskirche in der Regel mindestens 25000 Mitglieder zählen (für angeschlossene Mitglieds-kirchen 10000 Mitglieder). Diese Formulierung der Kriterien der "Mitgliedschaft" geben keine Auskunft, wie der Ökumenische Rat sich verhalten soll, wenn eine Mitgliedskirche von Spaltung heimgesucht wird oder wenn zwei oder mehr Mitgliedskirchen sich vereinigen bzw. volle Kirchengemeinschaft vereinbaren. Die Tatsache, dass die meisten Kirchen der protestantischen Tradition heute in einer Situation von (wenigstens faktischer) voller Kirchengemeinschaft miteinander leben, wirft die Frage auf, wie dies angemessener im Charakter ihrer Mitgliedschaft im ÖRK zum Ausdruck kommen kann.

25. Schon seit über zwanzig Jahren haben die orthodoxen Kirchen ihr Unbehagen darüber geäussert, dass der Ökumenische Rat immer weiter neue Mitgliedskirchen, meist mit protestantischem Hintergrund, aufnimmt, während die Zahl der orthodoxen Mitgliedskirchen nahezu unverändert geblieben ist und sich vermutlich nicht verändern wird. Sie sehen sich zu einer strukturellen Minoritätssituation verurteilt. Infolgedessen können sie nur begrenzten Einfluss auf die programmatische Ausrichtung und die Entscheidungen der Leitungsorgane des Ökumenischen Rates ausüben. Sie betonen, dass sie eine der beiden christlichen Haupttraditionen - Orthodoxie und Protestantismus - vertreten, welche zusammen den Ökumenischen Rat bilden, und dass die Gesamtzahl ihrer Gläubigen wenigstens einem Drittel der Mitgliederzahl aller Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates entspricht. Deshalb fordern sie eine Überprüfung der Strukturen und Leitungsprozesse des Rates. Die Praxis, ihnen eine Quote (gegenwärtig 25%) der Sitze in den Leitungsgremien zuzugestehen, so wie es Quoten für Laien, Frauen, Jugendliche usw. gibt, bietet nach ihrer Meinung keine Lösung des Problems. Sie hinterfragen auch die Geschäftsordnung des Ökumenischen Rates und seine Entscheidungsprozeduren, die dem parlamentarischen Modell der Mehrheitsentscheidung folgen. Aus Respekt vor ihrer festen Überzeugung, dass Angelegenheiten, die das ekklesiologische Selbstverständnis einer Kirche berühren, nicht auf dem Wege einer Abstimmung entschieden werden können und dürfen, hat der Rat eine Satzungsbestimmung angenommen (XVI.6.b), die vorsieht, dass solche Angelegenheiten in beratender Sitzung ohne Abstimmung behandelt werden sollen. Neuerdings haben die orthodoxen Kirchen jedoch die grundsätzlichere Frage aufgeworfen, was es bedeutet, Mitgliedschaft in einer Organisation aufrechtzuerhalten, deren Tagesordnung von Fragen bestimmt ist, die oft nicht nur ihrem ekklesiologischen Selbstverständnis, sondern auch ihrem Ethos und ihrer Kultur zuwiderlaufen. Sie wollen zwar ihre Verpflichtung und ihre Mitverantwortung für die ökumenische Bewegung, an der sie von den ersten Anfängen an teilgenommen haben, nicht in Zweifel ziehen; aber sie fragen, ob institutionelle Mitgliedschaft mit den Implikationen und Verantwortungen, wie sie im CUV-Dokument entfaltet werden, die einzige Art ist, um als ökumenischer Partner anerkannt zu werden. Einige haben darauf hingewiesen, dass die römisch-katholische Kirche breite Möglichkeiten besitzt, als ein wesentlicher Partner an den Programmen und Aktivitäten des Ökumenischen Rates teilzunehmen, ohne jedoch die Verantwortungen der Mitgliedschaft zu übernehmen.

26. Alle diese Fragen bringen zum Bewusstsein, dass das institutionelle Profil und "Ethos" des Ökumenischen Rates weitgehend geprägt ist durch das Modell von Kirchenversammlungen und Synoden der historischen protestantischen Kirchen, die ihrerseits die Tradition parlamentarischer Entscheidungsfindung in Ländern mit demokratischer Verfassung übernommen haben. Auch der Ökumenische Rat hat das Prinzip der Beteiligung der Menschen an Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, mit Nachdruck verteidigt. Dadurch hat er sein Leben der Beeinflussung durch Interessengruppen geöffnet, die sich zu vielen wichtigen Fragen gebildet haben. Viele Kirchen halten dies für durchaus angemessen, aber es handelt sich dabei um ein aus dem politischen Umfeld entlehntes Modell, und es ist nicht notwendigerweise die beste Form, um das Selbstverständnis einer "Gemeinschaft von Kirchen" zum Ausdruck zu bringen. Nicht nur die orthodoxen Kirchen, sondern auch viele Kirchen in Afrika und in anderen Teilen der südlichen Hemisphäre folgen Modellen, in welchen Dialog, Konsens und der Respekt für Hierarchie und Autorität betont wird. Solche Kirchen würden die Disziplin der "wechselseitigen Rechenschaft" als ein Kriterium von verpflichteter Gemeinschaft zwar nicht ablehnen, aber sie würden betonen, dass dies wirkliche Partnerschaft voraussetzt, d.h. die Bereitschaft, die Begegnung mit anderen in einem Dialog der Liebe zu wagen, statt zwischen unterschiedlichen Positionen und Interessengruppen Kompromisse auszuhandeln. Wenn der Ökumenische Rat in der Tat als ein Rahmen für die Eröffnung ökumenischen Raumes dienen soll, dann sollte die Frage gestellt werden, ob die gegenwärtige Form von Leitung durch Mehrheitsentscheidung die angemessenste Art ist, sein Leben zu organisieren. Entscheidungsfindung durch Konsens ist inzwischen sogar in einigen politischen Zusammenhängen auf internationaler Ebene als Formel aufgegriffen worden. Dies ist auch die Praxis in den meisten programmatischen Zusammenhängen des ÖRK. Solche Modelle könnten für die Leitung des Ökumenischen Rates auf der Ebene der formalen Entscheidungsfindung weiter durchdacht werden. Gleichzeitig sollte der Raum für wirkliche Beratung bei den Zusammenkünften der Vollversammlung und des Zentralausschusses eröffnet und ausgeweitet werden, um die unterschiedlichen Partner einzuladen, einander zu begegnen und aufeinander einzugehen, ohne notwendigerweise durch Abstimmung eine Entscheidung herbeiführen zu müssen. Es ist klar, dass all die Fragen im Blick auf Partizipation und Mitgliedschaft bei dieser Vollversammlung nicht befriedigend behandelt werden können. Die früher erwähnte interorthodoxe Zusammenkunft in Saloniki hat nachdrücklich vorgeschlagen, eine "gemischte theologische Kommission" zu bilden, um die institutionellen Veränderungen zu diskutieren, die notwendig sind, wenn eine annehmbare Form der orthodoxen Beteiligung am Leben des ÖRK erreicht werden soll. Dieser Vorschlag hat bereits die Unterstützung des Exekutiv-ausschusses gewonnen, und es ist die Erwartung, dass die Vollversammlung die notwendigen Entscheidungen für die Bildung einer solchen Kommission treffen wird.

27. Die Tatsache, dass die römisch-katholische Kirche an vielen Aspekten des Lebens und der Aktivitäten des Ökumenischen Rates aktiv beteiligt ist, nötigt uns jedoch dazu, noch einmal zu der Frage zurückzukehren, ob "Mitgliedschaft" als eine institutionelle Angelegenheit mit Rechten und Verantwortungen wirklich die einzige - oder auch die geeignetste - Form ist, um Teilhabe an der ökumenischen Bewegung zum Ausdruck zu bringen. Es ist immer unbestritten gewesen, dass die ökumenische Bewegung weiter und umfassender ist als der Ökumenische Rat mit seinen anerkannten Mitgliedskirchen. Eine grosse Vielzahl von Instrumenten und Akteuren der ökumenischen Bewegung sind entstanden. Einige von ihnen sind sogar älter als der ÖRK selbst. Der Rat unterhält regelmässige Arbeitsbeziehungen mit den Organisationen, welche die christlichen Weltgemeinschaften repräsentieren, mit regionalen ökumenischen Organisationen und nationalen Kirchenräten und mit einer ganzen Reihe von internationalen ökumenischen Organisationen. Die Satzung des Ökumenischen Rates erkennt sie zwar als wesentliche Partner in der "einen ökumenischen Bewegung" an, aber sie können nicht Mitglieder des Rates sein, und ihre Beteiligung an der Entwicklung von Programmen und Aktivitäten des ÖRK ist begrenzt. Neben der römisch-katholischen Kirche tragen auch andere "Nichtmitgliedskirchen", vor allem evangelikaler und pfingstlicher Prägung, auf ihre Weise zur Ausgestaltung der Tagesordnung der ökumenischen Bewegung bei, ohne jedoch institutionell mit dem ÖRK verbunden zu sein. Der Ökumenische Rat der Kirchen ist nach wie vor die umfassendste und repräsentativste institutionelle Ausprägung der ökumenischen Bewegung. Er hat daher eine besondere Verantwortung für die "Stärkung der einen ökumenischen Bewegung", wie es im Vorschlag der überarbeiteten Fassung von Art. III der Verfassung des ÖRK angesprochen wird. Der Änderungsvorschlag zur Verfassung verweist auf die unterschiedlichen ökumenischen Partner des ÖRK und sieht es als seine besondere Aufgabe an, "auf den Zusammenhalt der einen ökumenischen Bewegung in ihren vielfältigen Ausdrucksformen hin(zu)arbeiten".

28. Dieser Änderungsvorschlag weist dem ÖRK daher eine Verantwortung zu, die über das Umfeld seiner formalen Mitglieder hinausgeht. Die neue Formulierung verändert zwar nicht den Charakter des Ökumenischen Rates als "Rat von Kirchen", aber sie gibt zu erkennen, dass "Mitgliedschaft" nicht eine exklusive Kategorie für die Beteiligung an der gemeinsamen ökumenischen Aufgabe werden kann und darf. Um seiner Bereitschaft zur Förderung von Beziehungen über den Kreis der formalen Mitglieder hinaus greifbaren Ausdruck zu geben, hat der Rat vorgeschlagen, die Bildung eines "Forums christlicher Kirchen und ökumenischer Organisationen" zu erwägen. Der Begriff "Forum" ist bewusst gewählt worden, um anzudeuten, dass Beteiligung wichtiger ist als Mitgliedschaft. Das Forum ist für alle Körperschaften und Organisationen offen, die teilhaben am Bekenntnis von Jesus Christus als Herr und Heiland gemäss der Schrift und die sich bemühen, Gottes Berufung gehorsam zu sein. Ziel des Forums sollte die Schaffung des Raumes sein, wo ein wirklicher Austausch über die Herausforderungen stattfinden kann, vor denen die ökumenische Bewegung steht, und wo Formen der Zusammenarbeit entwickelt werden können. Das Forum sollte nicht eine weitere Institution mit administrativen und bürokratischen Strukturen werden. Es ist nicht gedacht als ein Rahmen, innerhalb dessen Entscheidung getroffen oder Resolutionen angenommen werden. Sein Ziel sollte die Schaffung eines Netzwerks von Beziehungen sein, welches über die Begrenzung der bestehenden Strukturen hinausreicht. Der ÖRK würde sich am Forum zusammen mit anderen Partnern beteiligen, ohne einen privilegierten Platz zu beanspruchen. Nach anfänglichen Konsultationen mit den wichtigsten Partnern, deren Bereitschaft zur Beteiligung von entscheidender Bedeutung für die Bildung des Forums wäre, fand im August dieses Jahres eine sondierende Konsultation statt, welche einen gemeinsamen Vorschlag formuliert hat, der nun den verschiedenen Partnern mit der Bitte um Stellungnahme zugeleitet worden ist. Auf Seiten des Ökumenischen Rates sollte diese Vollversammlung durch den Weisungsausschuss I auf den Vorschlag reagieren.

Eine ökumenische Vision für das 21. Jahrhundert

29. Zum Abschluss möchte ich mich noch den umfassenderen Perspektiven zuwenden, die das Vollversammlungsthema erschliesst, wenn es uns einlädt, "seid fröhlich in Hoffnung". Sind wir bereit dazu, eine "Rechenschaft von der Hoffnung, die in uns ist", zu geben? Haben wir eine ökumenische Vision, die uns leiten könnte auf unserem Weg in das 21. Jahrhundert und die überzeugend genug ist, um eine neue Generation zu inspirieren? Bei unserer Feier des 50. Jubiläums des Ökumenischen Rates werden wir daran erinnert, dass die Aussage der Amsterdamer Vollversammlung: "Wir haben den festen Willen, beieinander zu bleiben" nicht nur ein Akt des Glaubens war. Sie brachte auch eine Vision für die Kirche und die Welt und eine Verpflichtung zum Handeln zum Ausdruck. Die Worte der Botschaft von Amsterdam, die diese Verpflichtung feierlich bekräftigen, verdienen es, zur Eröffnung dieser Jubiläumsvollversammlung noch einmal zitiert zu werden: "Dass wir hier zusammenkamen, um den Ökumenischen Rat zu schaffen, würde ein vergebliches Beginnen bleiben, wenn nicht die Christenmenschen allenthalben sich Christus, dem Haupt der Kirche, zu eigen gäben in einem neuen Bemühen, dort, wo sie stehen, Seine Jünger zu sein und sich als Seine Diener unter ihrem Nächsten zu erweisen. Wir müssen uns selber und alle Menschen daran erinnern, dass Gott die Gewaltigen vom Stuhl gestossen und die Demütigen und Sanftmütigen erhoben hat. Wir müssen wieder aufs neue miteinander lernen, mutig im Namen Christi zu unseren Völkern zu sprechen und zu denen, die Macht über sie haben. Wir müssen lernen, dem Terror, der Grausamkeit, dem Rassenhass zu widerstehen, den Ausgestossenen, den Gefangenen, den Flüchtlingen zur Seite zu sein und die Kirche überall zum Munde zu machen für die Stummen und zur Heimat, in der jeder ein Zuhause finden kann... Wir wollen Gott bitten, dass er uns miteinander lehre, ein echtes Nein und ein echtes Ja zu sprechen. Ein Nein zu allem, was der Liebe Christi zuwider ist, zu jedem System, zu jedem Programm, zu jedem Menschen, die einen (anderen) Menschen behandeln, als wäre er (oder sie) nicht Gottes Geschöpf, sondern ein Stück Ware, das man ausnutzen kann; ein Nein zu denen, die im Namen der Ordnung das Unrecht zu Recht machen, zu denen, die die Saat des Krieges säen, und zu denen, die uns auffordern, ihn als unvermeidliches Schicksal hinzunehmen. Ein Ja zu allem, was mit der Liebe Christi zusammenstimmt, zu allen Menschen, die das Recht aufrichten, zu allen, die in der Welt einen echten Frieden schaffen möchten, zu allen, die um des Menschen willen hoffen, kämpfen und leiden; ein Ja zu all denen, die - selbst ohne es zu wissen - sich ausstrecken nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde, in welchen Gerechtigkeit wohnt."

30. Der ÖRK hat sich bemüht, diese Verpflichtung und Vision umzusetzen und ist so in den fünfzig Jahren seines Bestehens in der Tat zu einer Quelle von Hoffnung für viele Menschen und Gemeinschaften geworden: für entwurzelte Menschen und die Opfer von rassischer Diskriminierung und Unterdrückung, für diejenigen, die um Gerechtigkeit und Menschenwürde kämpfen, für Frauen und alle, die in Kirche und Gesellschaft an den Rand gedrängt sind. Diese sichtbaren Zeichen gemeinsamen christlichen Gehorsams haben das Profil des Ökumenischen Rates über mehrere Generationen hinweg geprägt. Sie haben in allen Teilen der Welt die Bildung von Netzwerken ökumenischer Solidarität ermutigt, welche unser Verständnis davon, was es heisst, Kirche in der Welt zu sein, verändert haben.

31. Aber wenn wir feierlich das Erbe derer bedenken, die uns vorausgegangen sind, dann können wir uns nicht damit zufrieden geben, einfach ihre Vision und Verpflichtung zu bekräftigen. Die Vision und die Verpflichtung von Amsterdam wurden unter dem Eindruck der Verwüstungen formuliert, die der zerstörerischste Krieg in der menschlichen Geschichte hinterlassen hatte. Wir müssen unsere eigene Vision und Verpflichtung formulieren angesichts der Situation der Welt und der ökumenischen Bewegung am Vorabend des 21. Jahrhunderts. Wir sehen uns heute hineingezogen in einen Prozess historischer Transformation, der allgemein mit dem Begriff der "Globalisierung" gekennzeichnet wird. Dadurch ist die wechselseitige Abhängigkeit aller Teile der Welt, vor allem in den Bereichen von Wirtschaft, Finanzen und Kommunikation, dramatisch angestiegen. Gleichzeitig verursacht die Globalisierung eine wachsende Aufsplitterung und die Ausgrenzung grosser Teile der Weltbevölkerung. Die ökumenische Bewegung selbst befindet sich darüber hinaus an einem Scheideweg und bedarf dringend neuer Orientierung. Wenn wir dieses Jubiläum gefeiert und erneut bezeugt haben, dass wir den festen Willen haben, beieinander zu bleiben, können wir nicht einfach nach Hause zurückkehren und mit unserer ökumenischen Arbeit fortfahren wie zuvor. Das Vollversammlungsthema ruft uns zur Umkehr auf, zur Busse und zur selbstkritischen Einschätzung der Punkte, wo wir versagt haben, die Spaltungen im Leibe Christi zu heilen, wo wir gezögert haben, Nein zu sagen zu allem, was uns spaltet, und Ja zu allem, was grössere Einheit verheisst.

32. Aber manchmal ist unser Nein lauter gewesen als unser Ja. Gelegentlich haben wir zugelassen, dass unsere Vision von Einheit und gerechten Beziehungen in Kirche und Welt von den Zweideutigkeiten und Gegensätzen der Jahrzehnte von Konfrontation im Kalten Krieg verdunkelt wurde. Jetzt ist nicht die Zeit, uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen, uns bequem auf unsere eigene Vergangenheit zu stützen. Die Netzwerke ökumenischer Solidarität sind äusserster Belastung ausgesetzt unter der Dynamik des Globalisierungsprozesses, der von einer rücksichtslosen "Ökumene der Herrschaft" geprägt ist. Wir müssen zwar Nein sagen zu der sich abzeichnenden Weltordnung, die Hunderten von Millionen von Menschen das Recht auf Leben und Menschenwürde verweigert und die die Zukunftsfähigkeit der Lebensprozesse selbst gefährdet; aber mehr als je zuvor sind wir herausgefordert, Ja zu sagen, wo immer wir Bemühungen erkennen, Leben zu stützen und zu verteidigen, menschliche Gemeinschaft zu heilen und die Integrität der Schöpfung wiederherzustellen. Die Botschaft des Erlassjahres, die im Vollversammlungsthema enthalten ist, bietet uns kein fertiges Modell einer neuen Ordnung an; aber inmitten einer gebrochenen und unvollkommenen Welt bezeichnet sie Stellen, an denen Umkehr notwendig ist. Sie verspricht nicht sofort einen "neuen Himmel und eine neue Erde". Vielmehr war und bleibt sie auch heute eine Botschaft der Befreiung aus den Gefangenschaften, die uns noch immer aufhalten auf unserem ökumenischen Weg, und eine Charta der Hoffnung für den Wiederaufbau von Gemeinschaft, in der die, die an den Rand gedrängt und ausgegrenzt worden sind, in ihren Platz als Gleichberechtigte eingesetzt werden.

33. Auf der Grundlage des CUV-Dokumentes versucht der Text "Unsere ökumenische Vision" (der im Arbeitsbuch für die Vollversammlung enthalten ist), eine Rechenschaft von der Hoffnung, die in uns ist, zu geben. Der Text ist als eine Art Litanei in der liturgischen Sprache des Gottesdienstes formuliert worden. Er wird als Rahmen dienen für den Gottesdienst der Neuverpflichtung am 13. Dezember, in dem wir das 50. Jubiläum des ÖRK begehen. Er ist darüber hinaus eine Einladung, die Vision zu kontextualisieren und sie zu einem gemeinsamen Ausdruck der Hoffnung dieser Vollversammlung zu machen. Was dabei zur Debatte steht, ist nicht so sehr das Zentrum der Vision selbst. Die biblischen Symbole von der Herrschaft Gottes, von der Fülle des Lebens in der Gegenwart Gottes, vom neuen Himmel und der neuen Erde, die auf gerechten Beziehungen gegründet sind, von der Zusammenfassung aller Dinge in die Einheit in Christus - sie sind die Quelle der Inspiration für unsere Hoffnungen und Visionen. Die Herausforderung für uns hier und heute ist vielmehr, eine Sprache zu finden, in der wir diese biblischen Bilder für die gegenwärtigen und kommenden Generationen so interpretieren und entfalten können, dass auch diese neuen Generationen in die Lage versetzt werden, auf die ökumenische Berufung mit der gleichen Überzeugung zu antworten, wie es die Generationen taten, die den Weg bereitet haben.

34. Die Erklärung der Vision beginnt mit der Bestätigung des Vermächtnisses derer, die uns vorausgegangen sind. Sie erinnert uns daran, dass wir weiterhin das wandernde Gottesvolk sind, und sie formuliert dann eine Vision für die ökumenische Bewegung heute:

"Wir sehnen uns nach dem sichtbaren Einssein des Leibes Christi,
wenn die Gaben aller anerkannt werden,
der Jungen und Alten, Frauen und Männer, Laien und Ordinierten.

Wir erwarten die Heilung menschlicher Gemeinschaft
und das Wohlergehen von Gottes ganzer Schöpfung
.
Wir vertrauen auf die befreiende Kraft der Vergebung,
die Feindschaft in Freundschaft verwandelt
und den Teufelskreis der Gewalt durchbricht.

Wir öffnen uns für eine Kultur des Dialogs und der Solidarität
im Zusammenleben mit Fremden
und der bewussten Begegnung mit Menschen anderen Glaubens."

Diese Vision ist ausgerichtet auf die Wiederherstellung und den Bau von dauerhaften menschlichen Gemeinschaften. In einer Zeit zunehmender Individualisierung, Zersplitterung und Ausgrenzung vermittelt sie einen Bezugspunkt für die Hoffnungen im Norden wie im Süden. Mit Nachdruck bekräftigt sie das Leben und das Recht auf Leben für alle und setzt so die Ausrichtung der Vollversammlung in Canberra fort. Ihre Motive sind Ganzheitlichkeit, Versöhnung, Gemeinschaft, Dialog und Toleranz, Solidarität und Selbstbegrenzung von Macht. Die Erklärung der Vision ermutigt zur Formulierung von gemeinsamen Werten und Normen, zur Herausbildung einer neuen Kultur von Dialog und der Bereitschaft, voneinander zu lernen, von Gewaltlosigkeit und friedlicher Konfliktlösung, von Teilen und Solidarität. Diese Vision einer alternativen Kultur menschlicher Gemeinschaft in Kirche und Gesellschaft mag utopisch anmuten, denn sie steht im Gegensatz zu den anderen Werten und Normen, die uns in einer globalisierten Welt aufgenötigt werden. Sie ist in dem Vertrauen verwurzelt, dass es eine Alternative zum grenzenlosen Wettbewerb gibt, zu Wachstum um jeden Preis statt Genügsamkeit, zum Verbrauch anstelle von Regeneration, zum Individualismus anstelle von Gemeinschaft.

35. Jede Vision, die nicht zu neuen Formen des Handeln anregt, bleibt eine blasse Utopie. Sie kann sogar die nüchterne Wahrnehmung der Wirklichkeit verhindern - und so Gefahr laufen, zu einer lähmenden Ideologie zu werden. Eine Vision ist nur dann überzeugend, wenn sie uns hilft, die Widersprüche der Gegenwart aufzudecken und zu benennen und so die Kräfte für den Wandel und die Transformation freizusetzen. Eine solche gemeinsame Vision verpflichtet die Kirchen in der ökumenischen Bewegung, eine neue Qualität in ihren Beziehungen untereinander sichtbar werden zu lassen, die den Umriss einer neuen Ordnung, einer neuen Kultur ausdrückt und vorwegnimmt. Die Stärke und Integrität der ökumenischen Bewegung liegt in solch einem weltweiten Netzwerk von Beziehungen, das die Kirchen an jedem Ort stützen kann in ihrer Bemühung, wirklich Kirche zu sein, lebendige und zukunftsfähige Gemeinschaften zu bilden, tragfähige Nachbarschaften aufzubauen, Zuflucht und Raum für diejenigen zu bieten, die verloren oder ausgegrenzt sind. Wenn sie durch ihren Gottesdienst und ihr Leben einer solchen Vision Ausdruck geben, können die Kirchen denen neuen Sinn anbieten, die sich verloren oder verlassen fühlen, und die Ganzheit vorwegnehmen, die Gottes eschatologische Verheissung ist. Mit einer solchen Vision können die Kirchen durch Gottes Gnade wirklich zu Gemeinschaften der Hoffnung werden in einer Welt, die verlässlicher Grundlagen bedarf.


Plenarsitzungen der Vollversammlung
8. Vollversammlung und 50. Geburstag
Urheberrecht 1998 Ökumenischer Rat der Kirchen. Für Kommentare:
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